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Musikmagazin des
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Das
Pseudodasein der Neuen Musik kraft silberner Scheiben
Manuskript: Michael
Zwenzner, München |
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Das Pseudodasein der Neuen Musik kraft silberner Scheiben
Alles immer da. So klingt Peter Ablingers geradezu fanatischer Versuch dem Zuhörer in nur vier Minuten die gesamte Wiener Symphonik von Joseph Haydn bis Gustav Mahler zu vergegenwärtigen. Weiss-weissliches Rauschen von CD als Sinnbild für den heute erstaunlich reichhaltigen und vielfältigen CD-Markt auch im Bereich der Neuen Musik. Alles immer da möglichst alles wird verfügbar gemacht: Nicht nur die Gesamtwerke eines Bach oder Mozart sind diskographisch erschlossen, dasselbe gilt für das Schaffen von Webern, Varèse oder Barraqué. Und auch Oeuvres wie jene von György Kurtág oder Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis oder gar John Cage sind auf dem besten Wege dorthin. Erstaunlich! Bedenkt man die äußerst spärliche Präsenz aktueller Kunstmusik im dahinsiechenden Klassikplattenhandel; nimmt man das Aussterben der Fachverkäufer allenthalben zur Kenntnis; hört man die Klagen über hohe Kosten und schleppenden Verkauf bei den Produzenten; und bedenkt man vor allem, daß die umsatzstarken Majors der CD-Industrie zu dieser Vielfalt letztlich kaum etwas beitragen. [Nein, vor allem sind es kleine Unternehmen, die sich hier engagieren, deren Produkte man allerdings oftmals wie die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen suchen muß. Und zum Beispiel in Ursula Blocks Berliner Ladengalerie Gelbe Musik finden kann... Oder demnächst hoffentlich auch verstärkt im Internet... Denn wirtschaftlichen Erfolg kann es für kleine Labels nur geben, wenn sie ihr über den Globus weit verstreutes Publikum erreichen, so wie es in letzter Zeit (nach einem Jahrzehnt extremer Anstrengungen) dem Label col legno gelungen ist: Da gibt es dann plötzlich Abonnenten in der Türkei, den USA, oder gar auf einigen Südseeinseln, oder binnen kürzester Zeit tausendfach verkaufte Berio-Opern.] Wer einige Begeisterung mitbringt und beim Suchen hartnäckig genug ist, kann sich heute per CD ein gleichermaßen umfassendes wie detailliertes Bild heutiger Neuer Musikkultur Stück um Stück zusammenfügen. Und sich die jüngste Musikgeschichte in ihrer Vielschichtigkeit erschließen, ohne selbst dabei gewesen zu sein. Etwas, das keine noch so große Musikstadt mit ihrem Konzertangebot annähernd zu leisten vermag so bedauerlich das allerdings ist! Nicht alles, was gut ist, ist auch gleich auf CD erhältlich, doch im Vergleich zum in seiner Breite auf Romantik und Pop reduzierten Musikleben herrschen geradezu paradiesische Verhältnisse. Der CD-Markt als Tor zu einem wichtigen Teil internationaler Musikkultur: Erstaunliche Entdeckungen ganzer kompositorischer Lebenswerke erfolgen durch den mehr oder weniger zufälligen Erwerb von CD-Editionen wer etwa kennt den Komponisten Artur Schnabel? Oder vielmehr: Warum um alles in der Welt kennt man ihn nicht! ; ganze musikalische Kontinente, die bisher im Dunkeln lagen, eröffnen sich einem: die Neue Musik Asiens, Australiens und Südamerikas findet via Tonträger Eingang ins europäische Wohnzimmer... [200]
Doch findet ein solcher internationaler Austausch auch auf den Musikpodien statt? Vor lauter Euphorie ob der genannten Perspektiven sollte man nicht vergessen, daß es am Eigentlichen, den musikalischen Live-Erlebnissen fehlt. Scheibe bleibt eben Scheibe, da wird kein Kugelauditorium draus! Möge die Schallkonserve in ihrer stereophonen Unzulänglichkeit immerhin dazu dienen, schmerzlich bewußt zu machen, welch großartige musikalische Vielfalt dem Konzertgänger heute in der Regel vorenthalten wird. Und manchmal erbarmt sich ja auch der eine oder andere Veranstalter oder Musiker... Womit neben der möglichen intensiveren Auseinandersetzung mit Neuer Musik vielleicht die wichtigste Funktion einer CD benannt wäre: der Ansporn zur Wiederaufführung. Daher rührt auch ein großer Teil der Energie, den Komponisten und Interpreten heute darauf verwenden, ihre Arbeit auf Tonträgern zu verewigen. Sie wissen nur zu gut, daß Tonträger ein wesentliches Mittel darstellen, ihr Wirken den wenigen geneigten Programmmachern sozusagen ans Ohr zu legen. Nicht selten finanzieren sogar junge Künstler ihre Porträtplatten deshalb heute selbst. Wenn Sie nicht gleich zur Selbsthilfe greifen; und wie etwa Stockhausen oder die Komponistenkollektive in Köln und Berlin Thürmchen oder Wandelweiser gleich eigene Labels gründen. Digital abgespeichert, jederzeit verfügbar und das bis in alle Ewigkeit, Kunstmusik unserer Zeit in Hülle und Fülle oder besser: in Jewelboxen und Regalmetern. Wirklich: Alles immer da? Natürlich nicht zum Glück! Es wird heute soviel komponiert wie nie zuvor. Zehntausende Komponisten schaffen einen schier unendlichen Strom musikalischer Novitäten, nur ein Bruchteil davon landet schließlich auf Tonträgern. Dass dies ein lohnender Bruchteil sei, dafür sorgen hierzulande jüngst gegründete Labels wie Kairos oder Cybele, weiterhin ältere Firmen wie col legno, die Edition RZ, HatArt, Montaigne, BIS oder Mode Records, die allen unternehmerischen Risiken zum Trotz nach wie vor existieren und Enormes für das CD-Repertoire leisten. Mancherorts droht allerdings tatsächlich eine Inflation neuer Klänge auf CD. Etwa im Rahmen der in letzter Zeit zahlreich aufgelegten Dokumentationen. Da gibt es Editionen auf vier, acht, zwölf, einhundertzwanzig silbrig schimmernden Scheiben... Ob Festivals wie Donaueschingen, Konzertreihen wie die musica viva oder gleich ganze historische Epochen wie in der Reihe des Deutschen Musikrats 50 Jahre Musik in Deutschland, alles wird mehr oder weniger gut ausgewertet und veröffentlicht. Der Komplettheitsanspruch führt dann leider auch einmal zu CDs mit zweifelhaften Interpretationen oder wie in der genannten Musikrat-Reihe aus Platzgründen zur Präsentation von Ausschnitten und Einzelsätzen. Auf solcherart Dokumentation mag man gerne verzichten. Dann schon lieber die Plunderphonisierung, wie der Kanadier John Oswald das nennt. Seine radikalen Musikmontagen offenbaren einen besonders kreativen Umgang mit konserviertem Schall, etwa wenn er John Zorns Naked City auf knappe 14 Sekunden herunter bringt: [230]
Michael Zwenzner
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