nmz 2002 | Seite 2
51. Jahrgang Sonderausgabe
Hintergrund
Die Substanz erhalten, den Rat neu gestalten
Die musikpolitische Aufgabe: Impulse für das Musikleben,
Mehrwert für die Mitglieder
Der alte Luxus-Dampfer DMR liegt inzwischen auf dem Trockendock.
Jahrzehnte oft erfolgreicher Kreuzfahrten, zuletzt in immer unruhigeren
Gewässern, sowie mangelhafte Grundwartungen haben ihre Spuren
hinterlassen. Morsche Taue, Mehltau auf dem Sonnendeck und Statikgefährdender
Rostfraß lassen die Ausgangssituation einer kosmetischen Retusche
schnell verblassen. Die neu gewählte Crew erkundet staunend
den Schiffsbauch, während die Eignerversammlung mit wachsender
Ungeduld darauf wartet, wann das Schiff wieder in den Dienst gestellt
wird. Die Wechselbäder prachtvoller Salons und verrotteter
Kajüten, aus denen der modernde Geruch von Faulgasen aufsteigt,
verschlägt der Mannschaft nicht nur den Atem, sondern zeitweilig
auch die Sprache. Was ursprünglich als Routinewartung mit ein
paar kleinen Schönheitsreparaturen gedacht war, weitet sich
zu einer kapitalen Generalüberholung aus.
Auswege aus der autistischen
Gesellsellschaft: Musik fördert Dialog- und Teamfähigkeit.
Foto: Erich Malter
Die aktuelle Krise des DMR ist nicht nur eine finanzielle und strukturelle,
sondern auch eine Sinnkrise. Die Rahmenbedingungen für ein
Fortbestehen dieser international größten musikalischen
Bürgerbewegung im Kulturbereich kann nur die Politik gewährleisten
(Entschuldung, Festbetragsfinanzierung) – und zwar im Interesse
eines lebendigen Musiklebens. Strategische Neuausrichtung, Strukturreform,
und Evaluation der Projekte sind dringend zu erledigende Aufgaben
des DMR, dem das Präsidium u.a. durch die Einsetzung der Strategie-
und Satzungskommission und deren Arbeitsergebnisse Rechnung getragen
hat.
Die Chancen in dieser existenziellen Krise für einen grundlegenden
Neubeginn liegen in den gewaltigen Aufgaben, die in der Kultur-
und Gesellschaftspolitik ihrer Bewältigung harren. Die zunehmende
Ökonomisierung aller Lebensbereiche treibt uns in eine Verwertungsgesellschaft,
die existenzsichernde Ressourcen verwertet (und damit vernichtet),
ohne nach den Konsequenzen für morgen und übermorgen zu
fragen. Alle Kennzahlen der gesellschaftlichen Entwicklung weisen
den Weg in eine autistische Gesellschaft. Wenn es uns nicht gemeinsam
gelingt, die harten (nicht die weichen!) Faktoren wie Sozialkompetenz,
musisch-ästhetische und Medienkompetenz zu erhalten und fortzuentwickeln
und damit die Grundlage für die Dialogfähigkeit auch mit
anderen Kulturen zu schaffen, wird diese Gesellschaftsform langfristig
keine Überlebenschance haben. In diesen Zeiten gesellschaftlicher
(Um-)Brüche bedarf es mehr denn je eines Kompetenzzentrums
„Musikkultur“, das im DMR durch fast 50 Jahre Erfahrungszuwachs
in beispielloser Weise konzentriert ist. Daraus leiten sich, stichwortartig
skizziert, die folgenden Aufgabenfelder für einen reformierten
DMR ab:
Musikpolitik
Musikpolitik ist in erster Linie Gesellschaftspolitik und nicht
Fachpolitik. Dieser Paradigmenwechsel ist eine Botschaft nach innen
und außen. Nur wenn wir die Dimension unserer gesellschaftlichen
Verantwortung – den Blick für das Ganze – deutlich
machen, haben wir die Chance, an dem Sumpf vordergründiger
Verteilungskämpfe und lobbyistischer Klientelpolitik vorbei,
eine neue Nachhaltigkeit politischer Meinungsbildung zu bewirken.
Dabei hat der DMR als Dachverband den strukturellen Vorteil, das
Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile ist, zu vertreten. So
kann sich der DMR zum Partner für die Politik entwickeln, der
beratend und meinungsbildend wirkt und damit politisches Handeln
auf ihre Kernaufgabe, Kunst und Kultur zu ermöglichen, konzentriert.
Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen
Ziel der DMR-Arbeit muss es sein, durch ein entsprechendes Instrumentarium
der vernetzten Information und Analyse, frühzeitig –
und nicht reaktiv – auf die Chancen und Risiken künftiger
Veränderungen aufmerksam zu machen. Die Potenzen für ein
solches Frühwarnsystem sind vorhanden, sie müssen nur
vernetzt und genutzt werden. Die Information und Bewertung künftiger
Entwicklungen eröffnet vor allem dann ganz neue Chancen für
einen nachhaltigen Meinungsbildungsprozess, wenn auch die Themenfelder
gesellschaftlicher Entwicklungen, die vermeintlich nicht in einem
direkten Zusammenhang zur Musikkultur stehen, mehr als bisher in
den Analyse- und Bewertungsprozess einbezogen werden.
Impulsgeber für das Musikleben
Wer (und wo) sind die Hörer von morgen, welche Ausdrucksformen
beeinflussen Komposition und Rezeption und welche Rolle spielt das
Musikleben? Aus der Erkenntnis, dass Bildung und Kultur im Elternhaus
und Kindergarten ihre Wurzeln haben, ist eine Vielzahl von interessanten
Angeboten – auch im so genannten Segment der Hochkultur –
entstanden. Die Vernetzung dieser Angebote auf der Basis eines ganzheitlichen
Konzeptes würde ihre Wirksamkeit vervielfachen. Es ist schon
jetzt zu beobachten, dass durch die zunehmende Virtualisierung unserer
Erlebniswelten das Bedürfnis nach nonvirtueller Betätigung
wächst. Dieses Potenzial im Sinne einer steuernden Verstärkung
zu schöpfen und damit auch eine Impulsfunktion für das
Musikleben geben zu können, ist eine Aufgabe des DMR. Die Projekte
des DMR sind das ideale Medium, die musikpolitischen Botschaften
und die Impulse für Wandlungsprozesse im Musikleben zu vermitteln.
Sie sind ein Gesamtkunstwerk nonverbaler Meinungsbildung. Deshalb
wäre eine Fragmentierung auf verschiedene Träger fatal
für das Musikleben in Deutschland.
Serviceorganisation für Mitgliedsverbände
Der DMR kann durch eine Konsolidierung seiner operativen Arbeit,
die Neustrukturierung seiner Binnenverhältnisse, die Verstärkung
des Einflusses auf die Legislative und Exekutive und die Vereinbarung
strategischer Partnerschaften (beispielsweise mit dem Deutschen
Sportbund oder den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft)
den Mehrwert für seine Mitglieder deutlich steigern.
In den nächsten Tagen und Wochen entscheidet sich, ob die
Politik eine „Reform von innen“ zulassen wird. Falls
nicht, droht ein wahrscheinlich irreparabler Flurschaden für
das Musikleben in Deutschland mit unabsehbaren Konsequenzen auch
auf der Länder- und Kommunalebene.
Christian Höppner ist als Präsidiumsmitglied
des DMR seit Januar dieses Jahres Vorsitzender der Strategiekommission,
Sprecher für die Sektion Musik im Deutschen Kulturrat und Präsident
des Landesmusikrats Berlin.