nmz 2002 | Seite 1-2
51. Jahrgang Sonderausgabe
Hintergrund
Deutscher Musikrat: Die Krise ist Chance
Überlegungen zu einer Neuorientierung des Dachverbandes
– Von Thomas Rietschel
Voraussetzung für all diese Überlegungen ist, dass es
gelingt, den Musikrat über die momentane Krise zu retten, damit
er Zeit bekommt, sich neu aufzustellen. Dies ist möglich und
es gibt zwei Alternativen: Entschuldung oder Insolvenz. Beide Wege
bergen große Risiken, aber mit beiden kann im Moment die Weiterarbeit
des DMR gesichert werden. Welche Lösung gewählt wird,
das muss gemeinsam mit den beteiligten Fachleuten nach sachlichen
Gesichtspunkten entschieden werden. Für beide Lösungen
ist aber die Unterstützung der öffentlichen Hand notwendig.
An ihr liegt es, ob es in Zukunft einen starken, handlungsfähigen
Musikrat geben wird.
Der Musikrat in der Krise
Kein Zweifel, der DMR ist in der Krise, schlimmer hätte es
nicht kommen können: im finanziellen Bereich droht die Insolvenz,
im seit langer Zeit führungslosen Generalsekretariat sind viele
organisatorische Abläufe und Verantwortlichkeiten zu klären.
Ein Selbstverständnis als Dienstleister für seine Mitglieder
ist beim DMR kaum vorhanden. Dementsprechend groß ist die
Mitgliederunzufriedenheit. Und nun haben auch die Zuwendungsgeber
klargestellt, dass Sie bei einem „weiter so“ dem DMR
nicht aus der Patsche helfen werden. Der DMR wird von allen Seiten
in die Zange genommen.
Wir sollten diese große Krise als eine große Chance
begreifen und den DMR „zukunftsfähig“ machen. Eine
sinnvollere Aufgabe für sein 50. Jubiläumsjahr 2003 kann
ich mir für den Musikrat nicht vorstellen. So eine Chance hatte
der Musikrat noch nie und die wird er auch in den nächsten
50 Jahren nicht mehr bekommen. Denn die Vorraussetzungen für
eine tiefgreifende Veränderung könnten besser nicht sein..
„Verkrustung, Unbeweglichkeit, Arroganz, Funktionärsverein“,
dies sind Schlagworte, mit denen inzwischen nicht mehr nur Außenstehende
– wenn sie ihn denn überhaupt wahrgenommen haben - sondern
zunehmend auch Mitglieder den DMR belegen. Wer die Statements der
vorliegenden Sonderausgabe sorgfältig liest, der stellt fest,
sehr viele - und hier vor allem die Kenner der Szene sind der Ansicht:
wir brauchen einen Musikrat, aber er muss sich ändern.
Der neue Deutsche Musikrat
Meine Vision ist die einer Gesellschaft, in der ein lebendiges
Musikleben von der ganzen Bevölkerung getragen wird, weil es
ihr Sinn, Herausforderung und Unterhaltung bietet. Ein starker,
handlungsfähiger DMR wird hierbei eine wichtige Rolle spielen.
Was muss getan werden, um dieses Ziel zu erreichen? Es stellen sich
vier Aufgaben, die wir zu erledigen haben:
Der DMR braucht ein neues Selbstverständnis
Der DMR braucht eine stärkere Mitgliederorientierung
Der DMR braucht ein effizientes Management
Der DMR braucht eine inhaltliche und organisatorische Neuausrichtung
seiner Projekte
Das neue Selbstverständnis
1.) Der DMR ist kein klassischer Lobbyist. Mit solch einem
Selbstverständnis machte er sich selber viel zu klein. Der
DMR vertritt einen zentralen Bereich in unserer Gesellschaft. Er
ist viel mehr als der Interessenvertreter der acht Millionen Menschen,
die sich aktiv im Musikbereich organisiert haben. Er hat die Aufgabe,
in allem was er tut deutlich zu machen, dass Musik zum Menschen
gehört. Das ist kein Anliegen aus Selbstzweck, da verhandeln
wir Fragen, die alle Menschen betreffen: wie soll unsere Gesellschaft
aussehen und welche Aufgabe hat dabei die Kunst? Christian Höppner
hat dies in seinem Beitrag den Sprung von der Fach- zur Gesellschaftspolitik
genannt. Aus diesem Selbstverständnis heraus müssen sich
in Zukunft die Politikberatung und die Öffentlichkeitsarbeit
des DMR definieren.
2.) Der DMR ist nicht die Spitze auf der Pyramide des Musiklebens.
Die Vorstellung, dass der DMR die „oberste“ Institution
im Musikleben sei, bringt uns nicht weiter. Zum einen überfordert
sie den DMR, weil er ja dann für alles auf höchster Ebene
zuständig ist, zum anderen schwächt diese Vorstellung
die anderen Akteure unseres Musiklebens. Der DMR ist Teil eines
großen Netzes und in diesem Netz übernimmt er spezifische
Aufgaben – und zwar die, die er am besten kann. Damit werden
die anderen Akteure im Musikleben zu Partnern mit denen man die
Aufteilung der zu erledigenden Aufgaben und damit auch Verantwortlichkeiten
und Kompetenzen aushandelt. In der Praxis heißt das: der DMR
muss darüber nachdenken, ob einige Dinge die er tut, in anderen
Händen nicht besser aufgehoben wären. Wir sollten eine
neue Aufgabenteilung im Musikleben diskutieren.
3.) Der DMR ist nicht die „Repräsentation“
des deutschen Musiklebens. Mit dieser passiven Rolle, in der er
nur widerspiegelt, was sich unter ihm ereignet, wird er nicht überleben.
Der DMR muss aktiver Gestalter des Musiklebens und der Kulturpolitik
in Deutschland werden. Er muss nach innen Impulse geben, neue Themen
und Entwicklungen aufspüren und fördern und er sollte
diese nach außen in die öffentliche Diskussion tragen,
sie zu „Themen“ machen. Mit seinen Projekten hat er
die Chance, neue Entwicklungen auch exemplarisch umzusetzen, vorzuführen.
4.) Der DMR ist kein Herrscher sondern ein Dienender. Er
muss sich in seinem Selbstverständnis als Dienstleister begreifen.
Seine Zielgruppen oder Kunden sind dabei die Mitglieder, die Fachöffentlichkeit,
die breite Öffentlichkeit sowie Verwaltung und die Politik.
Für all seine Kunden hat er spezifische Dienstleistungen anzubieten.
Mitglieder eng einbeziehen
Vor zwei Jahren wurde auf der Generalversammlung gefragt: wozu
brauchen die Mitglieder den DMR? Dass die Frage polemisch war zeigt
Gott sei Dank die überwältigende Solidarität der
Mitglieder mit ihrem angeschlagenen Dachverband. Doch hat sie einen
leider einen allzu wahren Kern. Hier ein paar Symptome:
im Generalsekretariat gab es bis vor einem halben Jahr keinen
Anrufbeantworter, auf dem man eine Nachricht hinterlassen konnte.
Nur ein kleines Beispiel für das mangelnde Dienstleistungsbewußtsein
im Verband.
Die Information der Mitglieder durch den DMR beschränkte
sich in der Vergangenheit im wesentlichen auf die Informationen
im hinteren Teil des halbjährlich erscheinenden „Musikforums“
Der Laienmusikbereich war in der Arbeit des DMR wenig, die
Musikwirtschaft noch weniger und die Popularmusik überhaupt
nicht vertreten. Diese Bereiche machen aber über 90% unseres
Musiklebens aus.
Der DMR muss in Zukunft seine Mitglieder wieder aktiv in seine
Arbeit einbeziehen. Er muss ihre Anliegen wahrnehmen und ihnen Präsenz
in der Öffentlichkeit verschaffen. Ihm eröffnet sich dadurch
ein großes Potential an neuen Möglichkeiten: Er muss
Know-How seiner Mitgliedsorganisationen und der Musikwelt besser
nutzen. Unternehmen investieren heute viel Geld in das sogenannte
Wissensmanagement. Es macht die Stärke einer Organisation aus,
wenn sie weiß, wo in ihr welches Wissen vorhanden ist und
wie sie es schnell abrufen kann. Auch seine Aufgabe als „Seismograph“
für neue Entwicklungen kann der DMR viel besser wahrnehmen,
wenn er das Ohr nahe an der Basis hat. Und nicht zuletzt: über
die Mitglieder kann er Initiativen in Gang setzen und wenn nötig
auch öffentlichen Druck organisieren. All dies bedarf jedoch
spezifischer Strukturen, die die Kommunikation zwischen den verschiedenen
Ebenen ermöglichen, ohne mit vielen Gremien einen unbeweglichen
Apparat aufzubauen.
Effizientes Management
Der momentane Zustand des DMR macht deutlich, warum diese Forderung
keiner ausführlichen Begründung bedarf. Ein Controlling
auf der Basis einer transparenten Buchhaltung und definierter Projektziele,
Managementkompetenz und Motivation der Mitarbeiter, geklärte
Verantwortlichkeiten bei den Haupt- und Ehrenamtlichen sowie eine
reibungslose Organisation der Abläufe sind Voraussetzungen
einer soliden Arbeit, die so schnell wie möglich sichergestellt
werden müssen. Aber auch hier stellt sich die Frage nach den
Strukturen und Rechtsformen: die Entscheidung für Verein, gemeinnützige
GmbH, Stiftung oder für Mischformen ist hier von außerordentlicher
Bedeutung.
Neuausrichtung der Projekte
Der DMR hat in der Vergangenheit vor allem im Bereich der Nachwuchsförderung
und der zeitgenössischen Musik Herausragendes geleistet. „Jugend
Musiziert“, das „BuJazzO“ , die „Bundesauswahl
Konzerte junger Künstler“ oder das „Konzert des
Deutschen Musikrates“ sind weltweit einzigartig. Es steht
für mich aber außer Frage, dass wir über unsere
Projekte neu nachdenken müssen, auch über die heiligen
Kühe.
Entspricht das Gießkannenprinzip von „Konzert des
Deutschen Musikrates“ unserem Anspruch als Gestalter? Sollten
wir nicht mutiger sein und hier Akzente setzen? Sollte sich Jugend
Musiziert nicht neuen Musikbereichen öffnen und damit auch
neuen „Präsentationsformen“ und einem anderen Umgang
mit Musik? Könnte das BJO nicht Vorreiter einer Entwicklung
werden, in der sich der Musiker immer mehr auch als Musikvermittler
begreift? Könnte das MIZ nicht beispielsweise zum „braintrust“
des Musikrates werden, Koordinationsstelle für die Bundesfachausschüsse,
Koordinator eines Expertenpools, Organisator des oben skizzierten
Wissensmanagements?
Die Projekte des DMR müssen Vorbildcharakter haben. Sie müssen
exemplarisch umzusetzen versuchen, wofür der DMR eintritt und
sie sollten vorbildlich sein in Organisation und Effizienz. Auch
hier stellt sich dann die Frage nach der geeigneten Struktur.
Schritte zum Ziel
Ich bin der Ansicht, dass es falsch wäre, dem großen
Veränderungsdruck nachzugeben und am grünen Tisch ein
Idealmodell zu entwickeln, das bei der Generalversammlung im Dezember
verabschiedet und umgesetzt wird. Wir ändern dann nur die äußere
Hülle, während die zentralen Probleme ungelöst bleiben.
Wir sollten in vier Schritten vorgehen.
Konsolidierung
Analyse
Konzeption
Umsetzung
Der Prozess der Konsolidierung wird bis zum Jahresende abgeschlossen
sein. Hier geht es darum sicherzustellen, dass die Verwaltung des
DMR funktioniert, dass Zuschüsse den Richtlinien entsprechend
verwendet werden und dass ein Controlling des Haushalts über
eine funktionierende Buchhaltung sichergestellt ist. Dies ist Voraussetzung
dafür, dass der DMR wieder Mittel von der öffentlichen
Hand erhält.
Parallel dazu sollten wir sofort mit der Analyse beginnen und
diesen Schritt bis zur Generalversammlung im Dezember (oder vielleicht
Anfang Januar) abgeschlossen haben. Über eine Befragung der
Mitglieder, der Gremien, der Mitarbeiter und der Zuwendungsgeber
soll eine Analyse der Situation des DMR erstellt werden. Ergebnis
wäre eine Beschreibung des Selbstverständnisses, der Positionierung
und der Aufgaben und Leistungen, die vom DMR erwartet werden. Dies
hat den Vorteil, dass wir durch diese Befragung alle Beteiligten
dazu bringen, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen.
Nicht nur der Musikrat wird dadurch gewinnen. Das Netzwerk „Musikleben“
(siehe oben) wird stabiler und wir binden alle Beteiligten in den
Prozess der Neuorientierung ein. Wenn das gelingt, dann wird diese
Neuorientierung auch erfolgreich sein.
In einem zweiten Schritt wird gemeinsam mit den Beteiligten die
Neukonzeption des DMR erarbeitet. Hier werden die zentralen Fragen
einer Aufgabenverteilung innerhalb des Netzwerkes „Musikleben“
und der Struktur des neuen Musikrates geklärt. Die dritte Phase
der Umsetzung könnte dann schon im Sommer nächsten Jahres
beginnen.
Nachbemerkung: Dieser Text beinhaltet rein persönliche Überlegungen
zu einer Neuorientierung des DMR, die ich in der Kürze der
Zeit weder mit dem Präsidium noch mit anderen Gremien des DMR
abstimmen konnte. Wir stehen unter ungeheurem Zeitdruck. So ist
die Verführung groß, eine Ideallösung im Eiltempo
durchzupeitschen, weil im Moment jede Veränderung besser erscheint
als das Bestehende. Dieses Schnellverfahren wäre aber genauso
falsch, als warteten wir ab, oder schöben das Thema in irgendwelche
Gremien ab. Denn jetzt ist die Motivation und der Wille zur Veränderung
da. Das müssen wir nutzen.
Das von mir vorgeschlagene Verfahren bedeutet, dass wir sofort
beginnen, indem wir alle Akteure von Beginn an einbeziehen und damit
die vorhandenen positiven Energien nutzen und negative Energien
in positive umwandeln können. Wir lassen uns jedoch die Zeit,
die wir brauchen um richtige Entscheidungen zu treffen. Dabei dürfen
wir aber auch nicht in unseren alten Fehler verfallen und jetzt
Satzungskommissionen gründen, die dann jahrelang an Details
basteln. Die Wirtschaft macht uns vor, dass Veränderungen auch
in großen Organisationen schnell und erfolgreich umgesetzt
werden können. Davon sollten wir lernen. Deshalb ist eine professionelle
Begleitung und Steuerung dieses Prozesses unumgänglich. Die
finanziellen Mittel dafür sollten wir und die Zuwendungsgeber
als eine unvermeidliche, sehr lohnende Investition in die Zukunft
begreifen.