nmz 2002 | Seite 9
51. Jahrgang Sonderausgabe
Hintergrund
Skizzen und Visionen fürs Musikleben im Jahr 2010
Podium zum Thema „Schwerpunkte der künftigen Arbeit
des Deutschen Musikrates“
Alle sprachen von Krise, als am 25./26. Oktober 2002 in Berlin
die 32. Generalversammlung des Deutschen Musikrates stattfand. Müßig,
sie zu leugnen, aber ebenso bedeutsam ist es, an dieser Stelle zu
sagen, wie viele gute, zukunftstaugliche und tragende Ideen in derselben
Versammlung auf den Diskussionspodien des ersten Sitzungstages geäußert
wurden. Die versammelten Verbände mit ihren diversen inhaltlichen
und kulturpolitischen Aufträgen bilden in ihrer Gesamtheit
einen Kulturschatz, der zwar im Moment an Glanz verloren zu haben
scheint, dessen kontinuierliches Anpreisen aber auch in dieser krisengeschüttelten
Situation keine Minute erlahmen darf. Einen guten Einblick in die
Visionen und die solide Gedanken- und Lobby-Arbeit lieferte das
Podium II der Generalversammlung.
Die Vorsitzenden der sechs bereits etablierten Bundesfachausschüsse
und eines neu gegründeten Ausschusses diskutierten unter der
Leitung von Theo Geißler das Thema „Musikleben 2010
– Schwerpunkte der künftigen Arbeit des Deutschen Musikrates“.
Das zunächst vom Moderator gezeichnete Bild des Status Quo
war pointiert und bedrückend zugleich. Zwar hatte man im Deutschen
Musikrat 1996 mit der Reformierung der bis dahin bestehenden Arbeitsgemeinschaften
Musikberufe, Musikwirtschaft, Musikerziehung/Laien beabsichtigt,
Kommunikationswege, Transparenz und mediale Außenwirkung zu
verbessern. Auch sollte gleichzeitig die Reaktionsfähigkeit
auf Kultur- und Tagespolitik kompetenzgestützt und differenziert
ausfallen. Sechs Jahre nach dieser Reform war jedoch weder eine
nachhaltige politische Wirkung feststellbar, noch ein Effekt für
die Positionierung des Musikrates und seiner Ziele in der (politischen)
Gesellschaft. Theo Geißler versuchte, in seinen provokativen
Eingangsstatements, die der Eröffnung einer konstruktiven Diskussion
dienen sollten, die Ursachen hierfür aufzudecken:
Das Generalsekretariat zog im internen Management keine Konsequenzen
aus dem möglichen Kompetenz- und Kraftgewinn durch die Gründung
der Bundesfachausschüsse, so wenig, wie es personelle Konsequenzen
gegeben hatte, mit denen einem veränderten Anforderungsprofil
Rechnung getragen worden wäre.
Auch waren die Bundesfachausschüsse oft entgegen ihrem eigentlichen
Geist besetzt: Nicht als konzentrierte Kompetenz-Zentren, sondern
als Funktionärs-Laufstege, auch zur Befriedigung vereinzelter
Verbandsinteressen. Das hatte zur Folge, dass einzelne Bundesfachausschüsse
quantitativ und damit kontraproduktiv aufgebläht wurden.
Gerade externe Fachleute konnten und wollten in diesen Konstrukten
für uneffektive Gremien-Kommunikation ihre Qualitäten
nicht entfalten. Denn wer schreibt fest, dass die Lösung eines
speziellen, fachlichen Problems gerade im Kulturbereich nur in einem
mit Spezial-Spezialisten besetzten Gremium gefunden werden könnte?
Oft sind es Generalisten, Kreuz- und Querdenker, die Bewegung in
heillos verfahrene Prozesse bringen. Sie zu engagieren, fehlte dem
Musikrat meist der Mut. Aufgrund der kontraproduktiven Sachlage
wurden virulente Themen nicht, oder nur in unbefriedigendem Maße
diskutiert. Zu nennen wären beispielsweise die Kampagne „Hauptsache
Musik“, die Situation des Musikunterrichtes an allgemeinbildenden
Schulen, die Aufwertung der Laienmusik im öffentlichen Bewusstsein,
das Thema „Musikvermittlung“, die Integration von Rock-
und Pop-Musik in die Arbeit des Musikrates, das Urhebervertragsrecht,
bis hin zur völligen Brache bei der Nutzung und Optimierung
europäischer Kultur-Strukturen. Soweit die düstere Bilanz
eines versuchten Reformprozesses.
Die Fotos dieser Seite zeigen
die Veranstaltung „Musikleben 2010 – Schwerpunkte
der künftigen Arbeit des Deutschen Musikrates“.
Foto: Jirka Jansch
Zu sprechen war also einerseits über strukturelle Änderungen,
andererseits über die inhaltliche Neuausrichtung beziehungsweise
Bündelung der bestehenden Fach-Kompetenzen. Dem Vorschlag von
Niels Knolle, Vorsitzender des Bundesfachausschusses „Musikpädagogik“,
die Bundesfachausschüsse an zwei Ansatzpunkten miteinander
zu vernetzen, dahin gehend nämlich, die Kompetenzen der Bundesfachausschüsse
untereinander synergetisch zusammenzufassen und deren Kompetenz
über deren Vorsitzende direkt ins Präsidium einzubringen,
stimmten weitere Vorsitzende zu. Deutlich wurde jedoch auch, dass
vordringlich das Mandat der Bundesfachausschüsse geklärt
werden müsse: Solle man das Präsidium des Deutschen Musikrates
künftig nur beraten und die Beschlüsse und deren Kommunikation
dem Präsidium überlassen, oder die gefällten Entscheidungen
eigenständig in die Öffentlichkeit tragen? Diese Frage
stand ganz offensichtlich bei vielen Bundesfachausschuss-Vorsitzendenganz
oben auf der Liste. Udo Dahmen, Vorsitzender des neu gegründeten
Bundesfachausschusses „Populäre Musik“ schloss
sich dem mit einigen Einschränkungen ebenso an wie der Bundesfachausschuss
Musik und Medien mit seinem Vorsitzenden Bernd Enders. Dem widersprachen
Reinhold Kreile, Vorsitzender des Bundesfachausschusses „Musikwirtschaft“
und der für den erkrankten Vorsitzenden des Bundesfachausschusses
Laienmusizieren eingesprungene Klaus Mader: Tenor war, dass der
Deutsche Musikrat politische Speerspitze der Musiktreibenden bleiben
müsse. Die Bundesfachausschüsse hätten folgerichtig
als Strategiekompetenzzentren zu agieren, die dem Präsidium
zuarbeiten und die Arbeit des Deutschen Musikrats stärken und
unterfüttern müssen. Nach Einschätzung Hartmut Karmeiers,
des Vorsitzenden des Bundesfachausschusses Musikberufe, seien die
Ausschüsse durchaus in der Lage, autonom zu handeln, was dem
Präsidium wiederum ermögliche, konzentrierter die verwaltungsinternen
Aufgaben abzuarbeiten, statt noch einmal das zu beraten, was bereits
Ergebnis der Beratung von Fachleuten war.
Der Vorsitzende des Bundesfachausschusses Musikwirtschaft Jens
Michow warnte zudem vor dem Risiko, den Deutschen Musikrat zum „zahnlosen
Tiger“ herabzusetzen, wenn aus den Ressourcen der Bundesfachausschüsse
direkt agiert würde und der Deutsche Musikrat in der Öffentlichkeit
nur noch als bloßes Label wahrgenommen werde. Eine sehr flexible
Koordination und Kooperation aller zu den zu kommunizierenden Themen
sei unumgänglich, das, strukturell bedingt, langsamer arbeitende
Präsidium sei dazu jedoch nicht geeignet, so das Statement
von Bruno Tetzner, Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung kulturelle
Jugendbildung. Die Stärke der Bundesfachausschüsse bestehe
darin, so die vorherrschende Überzeugung, ohne tagespolitischen
Druck Visionen und Konzepte entwickeln und inhaltlich arbeiten zu
können. Die tagespolitische Arbeit müsse davon getrennt
und hauptamtlich getan werden.
Innere und äußere Kommunikation blieben jedoch kontroverse
Themen, deren Klärung auch von den Anwesenden im Plenum gewünscht
wurde. Eine klare Weisung ging an die Verbesserung der internen
Kommunikationswege, Protokolle und Arbeitsergebnisse sollten untereinander
ausgetauscht werden, damit Klarheit darüber bestehe, welcher
Ausschuss an welchem Themenfeld arbeite. Aus der Kostensicht wie
auch aus Gründen der Geschwindigkeit wurde das Medium Internet
dazu vorgeschlagen. Um der bisher zu geringen Außenwirkung
des Deutschen Musikrates gegenzusteuern, wies Michow auf die Einbindung
geeigneter „Testimonials“ hin, deren Prominenz sich
in der Öffentlichkeit Gehör auch für musikpolitische
Themen verschaffen kann. „Es muss jemand im Präsidium
sein, der auch gedruckt wird, wenn er für den Deutschen Musikrat
spricht.“ Einig war man sich im Plenum, dass das Präsidium
des Deutschen Musikrates seinerseits in der Pflicht stehe, die geplanten
Aktionen mit den Bundesfachausschüssen klar zu vereinbaren,
damit die Ergebnisse der Ausschuss-Arbeit ständig in der politischen
Lobbyarbeit präsent gehalten werden. Diese Strukturänderung
erstrecke sich schließlich auch auf die Arbeit der Landesmusikräte,
die sich für ihre eigene Arbeit in aktuellen Fragen die Kompetenz
der Bundesfachausschüsse wünschten.Zahllos waren die Beiträge
zur inhaltlichen Erneuerung. Neben harscher Kritik an verpassten
Chancen schälten sich sehr schnell Ideen für die künftige
Vorgehensweise heraus.
Als zentrale Aufgabe eines neu strukturierten Deutschen Musikrates
wurde die Erhaltung einer lebendigen Musikkultur in Deutschland
gesehen. Als wichtige aktuelle Felder wurden die Musik-Ausbildung,
das Kunstverständnis in Zusammenhang mit dem Werkbegriff und
die Belebung eines erstarrten Konzertbetriebs genannt. Niels Knolle
nannte darüber hinaus die dringende Aufgabe, die Kooperation
zwischen allgemein bildenden Schulen und Musikschulen zu verbessern.
Gerade hier könne eine Organisation wie der Musikrat die Mentalität
in den Länderkultusministerien verändern und beispielsweise
den Bereich der populären Musikkultur in die Lehrpläne
bringen. Er sei der festen Überzeugung, dass nur eine angemessene
Einbeziehung der Popkultur als Musikkultur der meisten Jugendlichen
den Musikunterricht langfristig sichern könne. „Sonst
wird das Fach zunehmend abgewählt und kommt an den allgemein
bildenden Schulen kaum noch vor. Als Alternative bliebe dann nur
noch Selbstprofessionalisierung und Musikschule.“ Dieser Aussage
schloss sich auch Udo Dahmen an: „Wir müssen die Voraussetzungen
für eine qualitativ gute Musizierpraxis im Bereich Popmusik
bereitstellen. Dazu gehört die Medienerziehung, das Wissen
über Funktionsregeln der Popmusik und auch die Ausbildung eines
neuen Typs von Musiklehrer, der das vermitteln kann.“
Zeit für Visionen also, und damit wurde nicht gespart:
Gewünscht wird ein starker Deutscher Musikrat, der in
der Öffentlichkeit bekannt ist und dessen Wort politisches
Gewicht hat.
Als Dachverband soll der Deutsche Musikrat in der Lage sein,
Lobbyarbeit für seine Mitglieder zu betreiben und Beschlüsse
schnell umzusetzen. Unterstützung erhält er dabei von
den mit weiter reichenden Kompetenzen ausgestatteten Bundesfachausschüssen.
Er leistet kompetente Pressearbeit zu aktuellen Themen.
Der Deutsche Musikrat vermittelt zwischen dem traditionellen
Kunstverständnis und dem mediengeprägten der jungen
Generation. Er macht sich die Macht der Medien für die Zukunft
der Musik zu nutze. Der Deutsche Musikrat reagiert auf das veränderte
Rezeptionsverhalten gerade Jugendlicher und fördert eine
Konzertreihe mit Experimenten inszenierter Konzerte.
Der Deutsche Musikrat trägt den Gedanken weiter, dass der
Schöpfer eines musikalischen Werkes Eigentum schafft.
Der Deutsche Musikrat setzt sich dafür ein, dass Notenkenntnisse
wie die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen in der Grundschule
vermittelt werden.
Der Deutsche Musikrat arbeitet weiter daran, dass kulturelle
Ausgaben (z.B. für öffentlich subventionierte Orchester)
nicht mehr aus dem unsicheren Haushaltsbereich der freiwilligen
Ausgaben kommen.
Der Deutsche Musikrat zeigt Flagge, wann immer Arbeitsplätze
im Musikbereich gefährdet sind.
Wer angesichts dieser gewichtigen Liste von Aufgaben noch immer
glauben sollte, dass der Deutsche Musikrat sich als Verband erübrigt
hätte, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen!