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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 32
52. Jahrgang | Februar
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
Die Situation der Chormusik heute
Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Singens · Von Andreas
Göpfert
„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen”
– schreibt Georg Philipp Telemann 1718, zu einer Zeit also,
als die Emanzipation der Instrumentalmusik in vollem Gange war.
Vokalmusik, gar a cappella, war Musik von gestern, galt als der
„Alte Stil”. Die Zukunft aber galt der Instrumentalmusik,
gewissermaßen als Universalsprache. Telemann, selbst an diesem
Prozess maßgeblich beteiligt, muss dennoch geahnt haben, wohin
der Verlust des Singens schlechthin führen könnte, nämlich
zur Aufgabe der Basis für alle Musik. Sein Plädoyer für
das Singen als Fundamentum sollte uns heute nachdenken lassen, über
die Bedeutung des Singens in unserer Gesellschaft.
Wir fragen: Ist es naiv oder gar größenwahnsinnig angesichts
der Globalisierung, von vielfältigen Problemen der Mensch-
heit, dem Singen eine wichtige Rolle zuzumessen? Reicht nicht für
die Lösung der Probleme die Steigerung der kognitiven Kompetenz?
Zugegeben: die PISA-Studie benennt Defizite. Und es ist richtig,
diese Defizite zu minimieren. Aber – und das ist fatal –
der musischen Kompetenz wird kaum ein Wort gewidmet. Das Musische
schlechthin mit seiner Idee der ganzheitlichen, ausgeglichenen und
harmonischen Bildung und Ausbildung des Menschen trägt gehörig
zur Lösung komplexer Probleme und Fragen bei. Es ergänzt
und relativiert die kognitiven Wahrheiten mit Bereichen wie Übung
des Empfindens, des Hörens, also der Sensibilisierung der Wahrnehmungen,
des Gefühls für Zeit und Rhythmus, für Klang, Harmonie
und Disharmonie.
Wo aber fängt das Musische also an? Wo entfaltete sie sich
zuerst? Beim Singen!
„Singen ist das Fundament“ – nicht nur zur Musik,
sondern zu und in allen Dingen! Singen gehört zum Menschen.
Schon beim Embryo sind noch vor den Ohren die Stimmbänder ausgebildet.
Das Singen der werdenden Mutter wird vom Embryo ganz stark emotional
erlebt. Die mütterliche Stimme, ihr Singen prägt auch
nachhaltig in den ersten Lebensmonaten. Hier wird zum physischen
und psychischen Wohlbefinden von Anfang an beigetragen. Doch wie
viele junge Mütter begleiten das Kleine, wenn es selbst anfängt
zu lallen, singen gemeinsam mit ihm? Welche Kindergärtner/-innen
haben noch ein kindgemäßes Repertoire an Liedern und
die Fähigkeit, mit ihrer Gruppe zu singen? Eine Untersuchung
spricht von lediglich 10 Prozent aller Kindergartenkinder, die singen
können. Wie sieht es in den ersten Schuljahren mit dem Singen
aus? Hier ist ein erhebliches Defizit zu beklagen. Dabei ist Singen
wesentlich geeignet, zur Persönlichkeitswerdung unserer Kinder
beizutragen. Ernst Waldemar Weber berichtet:
„Über vier Jahre bekamen 50 Klassen verschiedener weiterführender
Schulen fünf statt zwei Stunden Musik. Die drei Zusatzstunden
wurden von den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und der ersten
Fremdsprache abgezogen. Die Auswertung ergab, dass die Schüler
keine Leistungseinbußen in den Hauptfächern zeigten und
dass der zusätzliche Musikunterricht deutliche Auswirkungen
auf Lebensfreude, Selbstbewusstsein und Sozialverhalten hatte.”
Und ähnliches hat Hans-Günther Bastian mit der Langzeitstudie
„Musik(erziehung) und ihre Wirkung“ belegt. Musik und
speziell Singen fördern die Kreativität, Verantwortungsbereitschaft
und -fähigkeit, Kritikbereitschaft und Kritikfähigkeit,
Teamfähigkeit und Sozialkompetenz. Alles wesentliche Kriterien,
um die kognitive Kompetenz sinnvoll zu ergänzen, sie um eine
affektive Dimension zu erweitern. Übrigens: In der PISA-Studie,
die wesentlich mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse
und Fähigkeiten untersucht, landet das traditionelle Singeland
Finnland auf Platz EINS! Etwa Zufall?
„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen!”.
Hat Theodor Adorno gewollt, was wir heute beklagen, nämlich
das Verstummen und Verklingen des Singens in der Alltagskultur,
als er 1958 in der „Kritik des Musikanten“ zuspitzte:
„Nirgends steht geschrieben, dass Singen Not sei.“ Er
hatte dabei sowohl den Missbrauch gemeinschaftlichen Singens im
Nationalsozialismus (und hätte wohl heute allen Grund, wenn
er die Grölerei der rechten Szenen vernähme) als auch
die Chorliteratur und die Kompositionshaltung der 50-er Jahre im
Visier. Sie waren Adornos Zielscheibe, weil ohne Reflexion und kritische
Einsicht an die Zielsetzungen und Grundsätze der Jugendmusik-
und Singbewegung angeknüpft wurde. Dass Adornos Satz fortsetzt:
„Zu fragen ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente“
– ist dabei seltener zitiert und dabei doch ganz wesentlich
für die Relativierung der vorherigen Aussage. Aber, das unselige
„Singen täte nicht Not“, Singen sei also unnötig
– dieser Satz hat eine Gesellschaft verändert. Singen
als Kultur des Alltags, als Fundament der Musik, als Bereicherung
der emotionalen und intellektuellen Qualität des Menschseins,
als leibliche und seelische Wohltat, als Basis für die aktive
Beschäftigung mit Musik, als auch günstigenfalls stringente
Hinführung zur Gemeinschaft im Chor, war von nun an kaum noch
gesellschaftsfähig. Einige Generationen haben Singen als Inbegriff
des authentischen emotionalen Ausdrucks, in dem der ganze Mensch
– Seele, Geist, Körper – zum Tönen kommt,
nicht erlebt, haben es ersetzt durch die ständige Verfügbarkeit
von Musik aller Spielarten in den Medien, auf Tonträgern. Dem
schleichenden Zerfall einer Alltagskultur des Singens muss jetzt,
heute entgegengewirkt werden.
Also gilt es, das Fundament erneut zu legen, die Breitenarbeit
in Bezug auf das Alltagssingen zu fördern, denn ohne sie gäbe
es nicht die Spitzenarbeit, die sich in den vielfältigsten
Facetten zeigt. Musikalische Hochkultur verlöre ihre Basis,
Chöre blieben auf der Strecke. Denn ohne Kinderchor, Schulchor,
dem jungen Erwachsenenchor dünnte die reichhaltige Chorlandschaft
unseres Landes aus. Zwar finden sich rund 750.000 Menschen in Deutschland
singend in Chören zusammen, das sind aber nur etwa zwei Prozent
der erwachsenen Bevölkerung. Chöre aber sind besonders
geeignet, die singenden Menschen mit ihresgleichen zusammenzuführen.
Hier ist der Einzelne gleichermaßen Interpret und Rezipient.
Im Chorsingen erfährt er Gemeinschaftsbildung, soziale Integration
und Persönlichkeitsentfaltung. Chorsingen schult das Hin-Hören
und das Zu-Hören.
„Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen.“
Doch was singen und in welchem Ambiente, um noch einmal mit Adorno
zu fragen. Wir beobachten seit etwa fünfzehn, zwanzig Jahren
eine deutliche Spezialisierung der interpretierenden Chöre
im Zusammenhang mit dem Begriff „Historische Aufführungspraxis“
für die frühe Mehrstimmigkeit bis hin zur Barockmusik
einerseits und eine Spezialisierung zum Ensemble für zeitgenössische
Musik andererseits. Während dort eine relative Breite existiert,
kann man hier die Ensembles an einer Hand abzählen. Was aber
ist für die Chorszene interessant geworden? Da ist zu einem
die erstaunliche Hinwendung zur Chormusik des 19. Jahrhunderts und
ihren Nachklängen im 20. Jahrhundert zu nennen. Verluste gibt
es bei der Chormusik, die noch bis in die 70erJahre zum Goldenen
Fonds gehörte, Musik, die durch Jugendmusik und Singbewegung
der 20er-, 30er-Jahre gespeist wurde und dort fast ohne Brüche
anknüpft. Nicht oder kaum heimisch werden konnte eine chorische
Tonsprache, die sich des Materialstands der Instrumentalmusik bediente,
sei sie zwölftönig, seriell oder freitonal. Nicht Bequemlichkeit
oder ein Mangel an Neugierde sind dafür ausschlaggebend, sondern
Grenzen weniger stimm- als gehörsphysiologischer Art sind überschritten.
Ein Sänger hat eben keine Tastatur oder Grifflöcher zur
Verfügung.
Doch Zeitgenössisches wird durchaus in den Chören gesungen.
Chorleiter greifen zu neuen Partituren, denn es gibt sie: eine heutige
Tonsprache, die Interpret und Hörer gleichermaßen anspricht.
Ein breiter Strom von neuer Chormusik aus dem skandinavischen Raum,
aus den baltischen Staaten, aus Nordamerika, Polen und Ungarn kommt
zu uns, aus Ländern und Regionen also, in denen das Singen
im Chor eine bedeutende, ungebrochene Rolle spielt. Geistliche Werke
dominieren, sind doch die Sakralräume bevorzugte Aufführungsorte.
Wenn Telemann also sagt „Singen ist das Fundament zur Music
in allen Dingen. Wer die Composition ergreifft, muss in seinen Sätzen
singen. Wer auf Instrumenten spielt, muss des Singens kundig seyn.
Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“,
sollten wir uns das zu Herzen nehmen.