[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 33-34
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Stimmen und Szenen
Stuttgarts Neue-Musik-Festival „Éclat“
Neben dem Traditionsfestival der Neuen Musik in Donaueschingen
und den Tagen der neuen Kammermusik in Witten hat sich in den letzten
Jahren vor allem das Festival Neue Musik in Stuttgart als wichtige
Stätte der Avantgarde positioniert, besonders seit es sich
mit dem Titel „Éclat“ ein griffiges und mehrdeutiges
Reizwort als Markenzeichen zugelegt hat. Auch dies- mal präsentierte
Stuttgart zahlreiche Uraufführungen, dazu Szenisches und das
inzwischen zum Konzept gehörende Musiktheater für Kinder,
zu denen man bei „Éclat“ auch gern die Achtzigjährigen
rechnet. Übrigens: zum endgültig letztenmal fand das Festival
im Theaterhaus im Stadtteil Wangen statt. Der nächste „Éclat“
ereignet sich im neuen Theaterhaus auf dem Pragsattel.
Willst Du Schau, geh‘ ins Lichtspiel. Der aphoristische Rat
stammt aus der Frühzeit des Kinos. Heute könnte man abwandelnd
formulieren: Besuch ein Festival mit so genannter „Neuer Musik“.
Wohin man sich auch wendet, ob nach Donaueschingen, Witten oder
nach Straßburgs „Musica“, überall gibt es
nicht nur zu hören, sondern auch und immer mehr zu sehen: Video,
Installationen, Performances, Szenisches, Raumarrangements für
Konzertantes: Ohr und Auge sollen gleichermaßen beschäftigt
werden. Dabei müsste gerade ein Musikfestival eigentlich doch
darauf bedacht sein, im Zeitalter optischer Überflutungen wieder
stärker zum Hören zu erziehen, zum Zu-Hören-Können.
Luigi Nono hat schließlich seinen „Prometeo“ als
„Tragödie des Hörens“ bezeichnet, und Luciano
Berios „König“ wird vor allem als ein „Horchender“
dargestellt.
Hohler Zahn? Gerötete
Stimmbänder? „Stimme und Szene“ nannte
sich ein Projekt der Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit Werken
von Jan Kopp, Perezani, Karassikow, Killmayr und Kaija Saariaho.
Foto: Charlotte Oswald
Andererseits wächst beim Publikum anscheinend mehr und mehr
das Interesse an Grenz- und Genreüberschreitungen, an synästhetischen
Erfahrungen. Das sind im Grunde alte Geschichten und Sehnsüchte:
Wie blau-silbern klingt das „Lohengrin“-Vorspiel, wie
herbstbraun der „Tannhäuser“? In der Oper fanden
und finden die ästhetischen Ausdrucksmittel zur idealen Einheit
zusammen, und so mögen auch die „Macher“ Neuer-Musik-Festivals
insgeheim oder offen von einer Wiedervereinigung der Künste
träumen: Neue Klänge, Bilder, Aktionen – zusammengeführt
im idealen Kunst-Raum zur Einheit mit den erlebnisbereiten Menschen
und deren Träumen. Von solcher Universalität „träumt“
auch das Festival Neuer Musik Stuttgart, das sich vor einigen Jahren
als griffiges Signet den Zusatztitel „Éclat“
zulegte. Das Wort besitzt im französischen Original verschiedene
Bedeutungen, wir setzen es vorwiegend mit einem Skandal in Verbindung
– in Stuttgart ist es jedoch bisher nicht zu einem solchen
gekommen, eher zu einem bemerkenswert gesteigerten Interesse des
Publikums, das die Angebote überwiegend freundlich, ja herzlich
akklamiert. Das war auch diesmal beim „Éclat“-Jahrgang
2003 der Fall. Hans-Peter Jahn, künstlerisch verantwortlicher
Leiter des Festivals, hat im Laufe der Jahre eine bemerkenswert
weitgespannte Programmstruktur entwickelt, in der sogar ein Musiktheater
für Kinder seinen festen Platz einnimmt. Dabei war er diesmal
gezwungen, das schon fertige Gesamtprogramm erheblich zu verkleinern,
nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil das neue große
Theaterhaus auf dem Pragsattel immer noch nicht spielfertig ist,
so dass man noch einmal in die intimere, anheimelnd-improvisatorisch
wirkende Atmosphäre des Theaterhauses im Stadtteil Wangen einkehren
musste.
Dreizehn Veranstaltungen an vier Tagen, mit zwanzig Werken, davon
dreizehn Uraufführungen: ein breites Panorama musikalischer
und musiktheatralischer Gegenwart öffnete sich. Das Musiktheater
für Kinder, das traditionell den „Éclat“-Auftakt
bildet, sichert sich pädagogisch ab: Es wird kurzerhand als
auch für Erwachsene geeignet erklärt, also für alle
Altersstufen zwischen acht und achtzig Jahren.
Das zwingt zu einer offenen Dramaturgie, die jedem den individuellen
Zugang gestattet – wie bei der „Zauberflöte“:
Papageno für die Kinder, Sarastro für die Großen.
Der Schauspieler Maarten Güppertz aus Holland, der sich mit
Hans-Peter Jahn den „Mann, der sich selbst verschenkte“
(so der Titel) ausdachte, benötigt außer sich selbst
noch eine weibliche Mitspielerin, die zugleich des Klavierspielens
mächtig ist, einen Flügel, einen Sandhaufen, eine rote
Clownnase, ein paar Kostümteile – das ist schon fast
alles. Maarten Güppertz, der „Mann“ schreitet seinen
Lebensweg ab, eine ein wenig sentimentale Reise durch die Natur,
ihr ewiges stirb und werde.
Er begegnet Tieren, die er possierlich nachahmt, er trifft auf
die Liebe einer Frau (Claudia Fröschle), die ihm ganz wunderbar
Helmut Lachenmanns „Ein Kinderspiel für Klavier“
vorträgt, er lässt sich symbolhaft den Sand zwischen den
Fingern herabgleiten: Die Zeit seines Lebens verrinnt. Güppertz
zaubert Poetisches, Tiefsinniges, bunte Clownerien auf die Bühne
und manchmal auch ziemlich Derbes, das den leichten Gestus des Werkes,
seine schwebende Musikalität arg stört. Vielleicht sollte
man doch einen nicht-mitspielenden Regisseur für die jeweilige
Inszenierung engagieren.
Hoch ambitioniert und trotz eines Regisseurs (Hans-Jürgen
Kapp) zu additiv-umständlich inszeniert, präsentierten
sich die Neuen Vokalsolisten Stuttgart in einem „Stimme &
Szene“-Projekt, für das Kapp und Ernst Poettgen das Konzept
entwarfen und Jan Kopp, Paolo Perezzani, Vadim Karassikow, Wilhelm
Killmeyer und Kaija Saariaho die zum Teil äußerst anspruchsvollen
Kompositionen beisteuerten – bis zum leicht prätentiös
wirkenden minutenlangen „Verschweigen“ der Musik in
Karassikows Cage-nahen Beiträgen: Auch eine „Verschweigung“
könnte in Korrespondenz mit einer „Szene“ formale
Stringenz gewinnen. Den bemerkenswerten Spielfertigkeiten der stimm-lich
überragenden Neuen Vokalsolisten ließen sich sicher dramaturgisch
komplexere und auch perfektere Darstellungen abgewinnen.
Zum Nur-Hören erzogen wurde man dann in den anderen Konzerten,
denen das Ensemble Varianti, das SWR Vokalensemble, das Radio-Sinfonieorchester
Stuttgart (Leitung Dominique My) und das Klangforum Wien den hohen
Interpretationsstandard sicherten. Was wäre besonders hervorzuheben?
Sicher Alvaro Carlevaros Komposition für Orchester und Candombe-Trommler,
die sich in das immer dichtere Klang-Rhythmus-Akkord-Geflecht des
Orchestersatzes „einmischen“, ohne ihre Individualität
aufzugeben, was schließlich zu ihrem Abgang führt: Im
Dialog zweier Kulturen bewahrt sich jede ihre Autonomie, aber: man
hat zumindest ein Stück des Weges gemeinsam musiziert und sich
kennen gelernt: Ein Stück Musik mit Botschaft also.
Uwe Rasch komponierte „Sprich:
naiky“, eine szenische Musik wie ein „Schattentheater“,
das sich hinter dem Trommelfell ereignet
Caspar Johannes Walters Komposition „Lebenslinie“ für
Geige, Cello und Orchester überzeugte durch höchst differenziert
eingesetzte Glissando-Elemente sowie eine komplizierte Tonhöhen-Strukturierung,
die dem Klang etwas bewusst Unbestimmtes, Vages verleiht. Im Preisträgerkonzert
des Stuttgarter Kompositionswettbewerbs von 2001 stellten sich Sebastian
Stier (Jahrgang 1970) mit „Double“ für 22 Spieler
und Wieland Hoban (1978 in London) mit „Hedone“ für
fünf Streicher vor, wobei sich Stiers energischer, plastisch
kontrastierender Komponiergestus nachdrücklicher darzustellen
vermochte. Im Klangforum-Konzert überzeugte vor allem Klas
Torstenssons „Latern Lectures“ für 15 Streicher
mit Einschüben für drei Blechbläser durch rhythmische
Energie und farbige Klanggestaltung. Uwe Raschs „sprich: naiky“
für acht Instrumente könnte man als aparte Studie über
Schattenklänge klassifizieren.
Marco Stroppa stellte in Stuttgart sein erweitertes „Cantilena“-Projekt
für dreifach geteilten gemischten Chor auf Texte unter anderem
von Rosselli, Jandl und Enzensberger vor: Die leicht weihevolle
Aura wird glücklicherweise durch produzierte Geräusche
und gesprochenen Text (bei Enzensberger) Distanz-schaffend unterbrochen.
Bei einem Avantgarde-Festival 2003 darf auch das „Crossover“-Experiment
nicht fehlen. Was die vierköpfige HipHop-Band Nonkonform und
das Ensemble der Autoren „Strom“ mit Unterstützung
flimmernder Werbefilme allerdings anzubieten hatten, gelangte über
das Gutgemeinte wohl kaum hinaus.
Dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Michael
Gielen blieb es vorbehalten, mit zwei schon bekannten Werken den
markanten Schlussstein des „Éclat“-Festivals
zu setzen: Georg Lopez‘ „Landscape with Martyrdom“
und Helmut Lachenmanns „Nun“ für Flöte, Posaune,
Männerstimmen und Orchester erfuhren Interpretationen von hoher
intellektueller und musikalischer Durchdringung, die auch ästhetische
Widersprüche aktuellen Komponierens speziell bei Lachenmann
reflektierte.