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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 38
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Mangel an Tiefgang und dramatischer Gestaltung
Nicholas Maws Oper „Sophie’s Choice“ wurde
in London uraufgeführt
„Sophie’s Choice“ – zuerst ein Roman (William
Styron), dann ein Film – beides amerikanischer Provenienz
– und jetzt auch noch eine vieraktige Oper mit 210 Minuten
Musik aus der Feder des 67-jährigen englischen Komponisten
Nicholas Maw. Das Auftragswerk des dritten Radioprogramms der British
Bradcasting Corporation (BBC) gemeinsam mit Londons Royal Opera
House erlebte dort am 7. Dezember vergangenen Jahres seine Uraufführung.
Hausdebut: Angelika Kirchschlager
als Sophie. Foto: Catherine Ashmore.
Man hatte zuvor die Werbetrommel tüchtig gerührt, hatte
die Eintrittspreise erheblich verringert und wartete zudem mit einem
künstlerischen Team auf, das höchste Erwartungen versprach.
Die fünf Vorstellungen waren ausverkauft und das Publikum tobte
vor Begeisterung. Man hatte es ihm allzuleicht gemacht. 16 Szenenwechsel
in dem brillanten Design von Rob Howell hielten das Auge gefangen;
die Musik verschaffte sich lediglich in den Zwischenspielungen Geltung
und überdeckte nie die Gesangslinien, was dem banalen Libretto
zu bester Verständlichkeit verhalf, und zusätzliche Textprojektionen
sorgten dafür, dass jeder dem Geschehen folgen konnte. Trevor
Nunn führte Regie und am Pult stand mit Simon Rattle, der Darling
der Nation. Die Story handelt von der jungen polnischen Katholikin
Sophie, die in Auschwitz zwar ihre beiden Kinder verlor, selbst
aber überlebte und inzwischen im New Yorker Stadtteil Brooklyn
verzweifelt zwischen einem Neubeginn und den Erinnerungen an ihre
grausame Vergangenheit pendelt. Dort lebt sie in einer Pension mit
dem in seinen Gefühlsausbrüchen unberechenbaren, schizophrenen
Nathan (Rodney Gilfry) zusammen; zu ihnen gesellt sich Stringo (Gordon
Gietz), ein junger, idealistischer und unbedarfter Mann aus den
Südstaaten, der in New York sein Heil als Schriftsteller sucht,
sich in Sophie verliebt und durch sie mit den an ihr vergangenen
Verbrechen des Dritten Reiches konfrontiert wird. Vor die Wahl gestellt,
mit ihm auf der Familienfarm in Virginia ein neues Leben zu beginnen
oder gemeinsam mit Nathan aus dem Leben zu scheiden, zieht sie den
Selbstmord vor.
Dies ist sicherlich ein Opernsujet von extremer Explosivität.
In der Realität geriet jedoch so ziemlich alles daneben; wenn
Simon Rattle behauptet, dass es sich hier um die beste englische
Oper seit 50 Jahren handelt, dann muss man seine Urteilsfähigkeit
in Frage stellen. Der größte Fehler lag zweifelsfrei
darin, dass Nicholas Maw aus den Romandialogen sein eigenes, endloses
und zumeist schrecklich auf der Oberfäche dahin plätscherndes
Libretto zusammenstellte. Hätte ein Dramatiker vom Format eines
Harold Pinter die Thematik knapp und mit Tiefgang für die einzelnen
Charaktere im Sinne von zum Beispiel „Wozzek“ bearbeitet
und damit jede erzählende Epik vermieden, wäre die Basis
für eine musikalische Herausforderung gelegt worden.
Statt dessen entstand eine triviale Aneinanderreihung von Begegnungen
und Begebenheiten, die selbst vor dem zweifelhaften szenischen Rückgriff
auf Vergangenes nicht zurückschreckte. Dabei gerieten die Geschehnisse
in Auschwitz zu kaum noch berührenden Klischees. Warum sich
Nicholas Maw dazu entschloss, dem angehenden Schriftsteller Stringo
in Gestalt eines ständig anwesenden Erzählers (Dale Duesing)
ein älteres Alter Ego zur Seite zu stellen, verwirrte ebenso
wie der Mangel an Tiefgang und dramatischer Gestaltung der drei
Protagonisten. Weiter kam man nicht darum herum, der handwerklich
gekonnten, doch keineswegs packenden Partitur jede dramatische Prägnanz
abzusprechen. Diese Musik rüttelte niemanden auf; aus ihr sprachen
vielseitige und durchaus legitime Anleihen, was ihre Zugänglichkeit
um eine gewisse Vielseitigkeit erweiterte. Doch offerierte sie sich
dem auf neue musikalische Zwangsläufigkeiten erpichten Hörer
derartig flüssig, dass sie zum einen Ohr hinein und zum anderen
Ohr schnell wieder hinausfloss, ohne irgendwelche Wirkung außer
Langeweile zu hinterlassen. Nicholas Maw ist in England vorrangig
durch seine ebenfalls von Simon Rattle geförderte und von ihm
auch eingespielte epische Symphonie „Odyssey“(100 Minuten)
bekannt; bei allen guten Absichten ist er sicherlich nicht dafür
prädestiniert, ein Bühnendrama noch dazu von derartiger
Realitätsbezogenheit zu bewältigen. Bis auf den großartigen
Einsatz der Solisten, darunter vorrangig das Hausdebut von Angelika
Kirchschlager in der Titelpartie, ging nichts unter die Haut. Vielmehr
sah man sich mit sentimentalem Kitsch amerikanischer Prägung
konfrontiert, zu dem sich die Musik als eine im besten Fall unterhaltende
Filmpartitur anpasste.
Der Erinnerung an die Uraufführung von Harrison Birtwistles
genialem Musikdrama „Gawain“ am 30. Mai 1991 am gleichen
Haus stand mit „Sophie’s Choice“ ein schwer verdaubares
Debakel gegenüber.