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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 39
52. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Triumph über die komponierenden Widersacher
Das Pariser Festival „Présences 2003“ präsentierte
den Komponisten Hans Werner Henze
Wenn die Franzosen schon jemanden feiern, dann, bitte, gründlich:
Hans Werner Henzes Schaffen war bislang in Frankreich nur punktuell
bekannt. Das hat sich jetzt gründlich geändert. Das Festival
de Création Musicale von Radio France, unter dem Titel „Présences“
seit dreizehn Jahren der neuen und neuesten Musik verpflichtet,
befahl den französischen Musikfreunden einen Nachhilfekurs
in Sachen Hans Werner Henze: Im Zentrum der „Présences
2003“ standen Aufführungen der zehn Sinfonien des Komponisten,
vorgestellt von sechs verschiedenen Orchestern unter ihren jeweiligen
Chefdirigenten. Im Vorfeld des Festivals gab es im Théâtre
des Champs-Elysées ein Extra-Konzert des Orchestre National
de France unter Kurt Masur, in dem Henzes neunte Sinfonie erklang.
Finaler Jubel: Henze neben
Myung-Whun Chung. Foto: Charlotte Oswald
Auch die Musik braucht Feindbilder. Die Erbfeindschaft zwischen
Deutschen und Franzosen war zwar nach Weltkrieg Zwei offiziell für
beendet erklärt worden, doch dann kamen die angeblich so harmonieseligen
Musiker und sorgten für neue Dissonanzen. Der deutsche Komponist
Hans Werner Henze hatte es gewagt, den Donaueschinger Musiktagen
anno 1957 seine „Nachtstücke und Arien“ auf Gedichte
Ingeborg Bachmanns anzutragen. Das Publikum bejubelte die sensiblen
Kantabilitäten als Erlösung aus dem Circulus vitiosus
der damals aktuellen kompositorischen Techniken aus Darmstadt, doch
im inneren Zirkel der Fortschrittler breitete sich Entsetzen aus.
Fortan herrschte Kriegsstimmung zwischen den Parteien, neben einem
Stockhausen oder Nono konnte sich vor allem Boulez nicht einkriegen
vor Abscheu. Noch zehn Jahre später giftete er in seinem berühmten
„Sprengt-die-Opernhäuser“-Disput im „Spiegel“
gegen den „Mist“ des Opernkomponisten Henze, und diese
Aversion muss sich wohl bis heute erhalten haben: Nur so ist es
zu verstehen, dass Henzes Schaffen in Frankreich bislang eher peripher
zur Kenntnis genommen wurde – Boulez’ Einfluß
im französischen, speziell Pariser Musikleben ist bekannt.
Auf diesem Hintergrund mutete es fast wie eine Provokation an,
wenn das „Présences“-Festival in diesem Jahr
dem Instrumentalschaffen Hans Werner Henzes den zentralen Platz
im Programm einräumte. René Bosc, seit drei Jahren künstlerischer
Leiter des vom Französischen Rundfunks getragenen Festivals,
bevorzugt für die Programmgestaltung einen möglichst weit
gespannten Pluralismus, nicht zuletzt auch deswegen, um einen breiteren
Interessentenkreis für die Neue Musik zu gewinnen, wozu für
ihn auch der Jazz in allen Spielarten zählt.
Diesbezügliche Erfolge haben sich bereits eingestellt: Die
Konzerte in der Salle Messiaen im großen Rundbau der Maison
Radio France waren bei freiem Eintritt oft mehr als ausgebucht.
Anders als die konzentrierten Weekend-Veranstaltungen in Donaueschingen
oder Witten schätzen die Franzosen die Dauer eines Festivals.
Wie die konzeptionell ähnlich gestaltete Straßburger
„Musica“ erstrecken sich auch die „Présences“
über mehr als zwei Wochen. Dabei steigern sich die Zahlen gern
zum Rausch: Diesmal wurden in 17 Konzerten 77 Werke von 44 Komponisten
aus 16 Ländern aufgeführt, davon 33 als Uraufführungen
und 26 als französische Erstaufführungen. Radio France
hatte allein 30 Werke in Auftrag gegeben. In die zehn Henze-Sinfonien,
von denen die meisten noch nie in Frankreich aufgeführt worden
sind, teilten sich sechs Orchester: Das Orchestre National de France
(Nr. 9 und Nr. 4), das Orchestre Philharmonique de Radio France
(Nr. 3, Nr. 6, Nr. 7. und Nr. 8), dann die Nationalorchester aus
Lille (Nr. 5), Montpellier (Nr. 10), Straßburg (Nr. 1) und
das Orchestre d’Ile-de-France (Nr. 2). Die Übertragung
auch auf Ensembles in der sogenannten „Provinz“ entbehrte
nicht einer gewissen strategischen Raffinesse: Da diese Orchester
„ihre“ jeweilige Henze-Sinfonie auch zu Hause präsentierten,
verstärkte sich der gewünschte Verbreitungseffekt merklich.
Und deutsche Musikfreunde, die eigens wegen Henze nach Paris gekommen
waren, durften mehr als einmal feststellen, auf welch hohem technischen
und musikalischen Standard die französischen Regionalorchester
agieren – in diesem Fall besonders das Ochester aus Lille
unter Jean-Claude Casadesus und die Philharmonie aus Straßburg
unter Jan Latham-Koenig. Überlegen auch die Gestaltung der
im Vorjahr in Luzern uraufgeführten „Zehnten“ durch
Friedemann Layer mit dem Orchestre de Montpellier.
Den Gipfel aber bestieg im finalen Konzert das Orchestre Philharmonique
de Radio France unter seinem Chefdirigenten Myung-Whun Chung: plastisch
und beredt durchartikuliert die sinfonische „Sommernachtstraum“-Anverwandlung
der Achten, grandios Henzes Beethoven-Hölderlin-Dialog in der
Siebten. Chung und das Orchester leuchteten die Komplexität
des Werkes in allen Facettierungen eindringlich aus, erzielten eine
ebenso präzis strukturierte wie fast licht und leicht wirkende
Darstellung, der gleichwohl die dramatischen Pulsierungen und wuchtigen
Klangentfaltungen nicht fehlten. Danach Jubel und langer Beifall.
Immer wieder zog der Dirigent den Komponisten auf das Podium. Henze
mag in diesem Augenblick Alter und Beschwerden vergessen haben,
sein Blick verriet Überraschung, Dank und sicher auch ein wenig
Triumph, dass er trotz der einstigen Widersacher schließlich
auch die Pariser von sich und seinem Werk überzeugen konnte.
Verwundert mag er auch in den Konzerten, die er fleißig
besuchte einschließlich eines Rundfunk-Gesprächs mit
Jean-Michel Damian, über das gewesen sein, was junge und jüngste
Komponisten aus aller Welt musikalisch so alles zusammentragen,
um daraus eigene Stücke zu schmieden. Vor Boulez & Co.
fürchtet sich niemand mehr. Erlaubt ist alles, was zumindest
einem selbst gefällt: Sinfonisches, Konzertantes, Jazzoides,
Folklore, Kammermusik für die apartesten instrumentalen Kombinationen.
Patrice Caratini (im Jazzkonzert) etwa schreibt Miniaturen für
Tuba und improvisiert über ein Henze-Thema, Graciane Finzi
komponiert aparte „Moments pour orchestre“, die niemandem
wehtun, Thierry Pécou „schleicht“ sich förmlich
in seiner „Symphonie du Jaguar“ wie ein Jäger durch
die Weltmusik, speziell die aus Lateinamerika, virtuos und witzig
führt Jean-Louis Agobet drei Klarinetten und Orchester in einem
Concerto grosso zusammen. Und auch die dramaturgisch erprobte Huldigungsnummer
fehlte nicht: Zehn Komponisten schrieben jeweils ein 1-Minuten-Stückchen
für Streichquartett als „Kommentar“ zu jeweils
einer der Henze-Sinfonien, unter ihnen Lucia Ronchetti, Thierry
Machuel, Pierre Farago, Alain Fourchotte und Peter Ruzicka, der
sein eigenes Konzert mit dem Orchestre National de France wegen
Krankheit abgeben musste. Damit entfiel leider auch die Aufführung
seiner Komposition „Nachtstück (-aufgegebenes Werk)“.
„Nachtstücke“ haben schließlich schon einmal
für Furore in der Neuen Musik gesorgt.