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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 54
52. Jahrgang | Februar
Dossier:
Musikmesse Frankfurt
Zerrieben zwischen Haydn und HipHop
Schulmusik als Anbiederungspädagogik oder Wissensvermittlung
· Von Hans Bäßler
Was waren das damals noch für Zeiten, als wir uns glücklich
wähnten, weil wir genau sagen konnten, wohin die Reise der
deutschen Musikpädagogik dem Musikunterricht an den deutschen
Schulen gehen sollte! Klare Verhältnisse, denn natürlich
lieferten die Methodiken für die Kleinen die Volkslieder, für
die Größeren waren die Kunstwerke vorbehalten. Das Ganze
sollte garantiert werden, indem an allen Schulen – entsprechend
dem Sportunterricht (welch Vergleich!) – ein ein- bis zweistündiger
Musikunterricht erteilt wurde, in den Volksschulen (so hießen
sie damals noch) genauso wie in den Mittel- und Oberschulen. Hinzu
kamen der Chor, ja vielleicht auch einmal eine kleine Orff-Gruppe.
Und nicht zu vergessen: Die Krone der Schulmusik – natürlich
am Gymnasium – konnte dann nur noch das Orchester sein, das
neben dem Weihnachtskonzert, dem jährlichen Höhepunkt
schulmusikalischen Lebens, auch noch das a-Moll-Violinkonzert von
Vivaldi und die kleine g-Moll-Sinfonie von Mozart im Sommer schaffte.
Die schulmusikalische Welt war in Ordnung, weil sie streng hierarchisiert
war. Der „ganz normale“ Unterricht spielte vielleicht
in der einen oder anderen Publikation eine Rolle, indem noch eine
weitere Einheit der „Kleinen Werke großer Meister“
angeboten wurde. Zwischen Hagiographie der großen Meister
und neuen (alten) Liedern gab es nicht sehr viel. Das Gymnasium
gab den Ton an, die anderen Schularten schafften sich sehr, den
gymnasialen Stoff aber natürlich um so weniger.
Das kleinste gemeinschaftliche Vielfache: Die Elementarlehre, das
Lieblingskind der Musiklehrerinnen und -lehrer, und das bis zum
heutigen Tage. Notenschreiben und -lesen als Kulturtechnik, die
nicht hinterfragt zu werden brauchte. „Wer weiß, wozu
es dir noch einmal nützen kann! Warte nur ein Weilchen...“
Die unkonkrete Utopie, in der Schule zu lernen, was in seinem Sinngehalt
nicht zu bestimmen ist. Das nennt man dann „überschüssige
Erfahrung“, eine Erfahrung, die im Megapack tagaus, tagein
Schülern zugemutet wurde.
Kein Wunder, dass der Ort dieser aberwitzigen Nicht-Pädagogik,
die den Erfahrungshorizont von Schülern gar nicht erst entdecken
wollte, für Schüler mit der Musik selbst, die vermittelt
werden sollte, nicht in Deckung gebracht wurde. Denn Musik in dem
Sinne, wie sie es verdient hätte, erfahren zu werden (nämlich
unmittelbar!), meinetwegen zwischen Haydn und HipHop, interessierte
musikpädagogisch nicht; schnell der Griff zur Austaste, damit
sich Schüler sogleich zu einem „Klangausschnitt“
von vielleicht zwei Minuten äußern sollten, einer Zeitdauer,
die in Relation zu dem ganzen Werk (das nie gehört wurde),
mindestens im Verhältnis 1:10 steht. Im fragwürdigen Sinne
eines falsch verstandenen „exemplarischen Prinzips“:
„Wie wirkte die Musik auf Euch?“, „Wo befand sich
der Höhepunkt?... Nein, nicht ganz, vielleicht doch, ach ja,
so meinst du das.“ Und dann wieder dieses Herumkauen auf dem
Dreiklang („Ich sehe aber sechs Noten!“) in Takt 7,
letztes Viertel („Stell dir vor, wir hätten jetzt C-Dur!“,
„Ich sehe kein C-Dur“, „Sollst Du auch nicht,
nur vorstellen, also wenn jetzt A-Dur, ja wenn es also C-Dur wäre,
dann wäre der Dreiklang ... na? Ist doch klar, dann ist das
hier G-Dur, also die Dominante“).
Diese Form der Wissensvermittlung aus der schlechten alten Zeit
kann man wohl nicht meinen, wenn man sich Gedanken über den
Musikunterricht heute macht. Leider ist sie keine Karikatur, sondern
kommt immer und immer wieder vor, gleichsam als Katarakt des Untauglichen,
der oft manifester sein kann als Sinnvolles, das sich immer wieder
dem sich Veränderndem anpassen muss.
Aber wie legitimiert man noch heute den Aberwitz? Indem man einen
gegnerischen Popanz aufbaut, der die eigene Unzulänglichkeit
legitimiert. Wer selbst spürt, dass er nichts vermitteln kann
– im Sinne einer Ver-Mittlung zwischen dem Schüler und
der Musik – , der spricht immer dann gern von der Kuschel-
von der Anbiederungspädagogik, wenn der Musikunterricht noch
die Schüler erreicht. Sich bei Schülern dadurch anbiedern,
dass sie anfangen, sich selbst mit der Musik – ihrer eigenen
wie der fremden der Lehrer – auseinander zu setzen, gehört
zu den beliebtesten Vorwürfen, die heute allen gemacht werden,
die sich Gedanken darüber machen, in welcher ästhetischen
Welt eigentlich Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn
Jahren leben und darauf den eigenen Unterricht ausrichten.
Begonnen hatte alles 1971 mit der hermeneutisch ausgerichteten
deutschen Musikpädagogik Karl Heinrich Ehrenforths, die im
Anschluss an die Existentialphilsophie Gadamers von einem hermeneutischen
Zirkel sprach, der sich zwischen dem Kunstwerk und dem Schüler
als dem Individuum bilden sollte. In diesem hermeneutischen Zirkel
lassen sich keine Hierarchien konstituieren und keine Hagiophonie
legitimieren, weil das subjektive Erfahren und Verstehen immer in
die Unmittelbarkeit des musikalischen Umgangs gestellt wird. Und
diese Unmittelbarkeit, eine zweite wichtige Einsicht bereits in
der Reformpädagogik, nicht erst der 70-er Jahre!, kann durch
musikalisches HANDELN eher erreicht werden. Die berühmte „sinnliche
Spur der Erinnerung“ trägt eine kaum bedeutsame Nachhaltigkeit
in sich, wenn man zwar viel „über“ etwas redet,
aber nicht in einen Handlungszusammenhang bringt. Be-Greifen lässt
sich nicht verordnen, es muss schon konkret werden. Wenn dieses
Be-Greifen (in weiterem Sinne) musikalische Erfahrung macht, dann
verändert sich schlagartig die Perspektive und Struktur des
Musikunterrichts – egal welcher Schulart.
Das aber mußte die deutsche Musikpädagogik erst sehr
schmerzvoll lernen. Durch die Grundschul- und sonderpädagogischen
Ansätze eines Erich Hansen oder Wilfried Fischer, eines Franz
Amrhein oder Björn Tischler verstand man die Aufgaben des täglichen
Unterrichts aller Schulformen vollkommen neu. Auch hier wurde „gelernt“,
wurde Wissen vermittelt, aber – entsprechend der Musik selbst
– durch ein Sich-Bewegen, ein Nachspielen, ein Malen zur Musik,
ein szenisches Darstellen. Musikalisches Lernen, ein Grundsatz,
auf den Hermann J. Kaiser immer wieder versucht hat hinzuweisen,
ist unverwechselbar mit der Musik als Musik und deswegen immer als
individueller Prozess verbunden.
Die Barrieren, die der Unterricht zwischen dem Schüler und
den Musiken aufbaut – Kaiser spricht zu Recht von den Musiken
im Plural, um die Vielfalt musikalischen Geschehens zu verdeutlichen
–, müssen erst mühsam wieder eingerissen werden,
weil die negativen Erfahrungen mit dem Fach zu negativen Erfahrungen
mit der Musik selbst wurden. Dieser mühsame Prozess aber wird
sich nicht an den traditionellen (Zeit-) Räumen in den Schulen
festmachen können. Im Gegenteil. Musiklernen in der Schule
wird sich neue Zeiten als den immergleichen ein- oder zwei-Stunden-Takt
in der Woche suchen müssen, denn diese Art, Wissen zu erwerben,
braucht Zeit, braucht Räume, in denen wirklich Musik er- und
geprobt werden kann, braucht Lehrer/-innen, die Lust darauf haben,
sich selbst in der und mit der Musik zu erfahren. Sie sind dann
nicht mehr die „letzte Instanz“ einer mehr oder weniger
rigiden Meisterlehre, sondern sind Mittler, die hinter den Prozess
zwischen den Schülern und der Musik zurücktreten.
Deswegen dominieren sie auch nicht ihre eigenen Musikpräferenzen,
sondern verdeutlichen, „warum“ sie selbst zu diesen
Präferenzen gekommen sind, warum sich ihnen auch ein Schumann
und Ruzicka mit-teilen. Dann – auf einmal – stellt sich
die Frage „Haydn oder HipHop“ nicht, vielmehr reden
hier Menschen mit und in unterschiedlichen musikalischen Erfahrungen.
Dann endlich würde Kultur lebendige Mit-Teilung. Und die Frage
„Anbiederungspädagogik oder Wissensvermittlung“
würde sich auch nicht mehr stellen, weil man weiß, dass
die Anbiederungspädagogik die Tochter einer falsch verstandenen
Wissensvermittlungspädagogik ist, gezeugt aus der Resignation,
letztlich doch nichts erreichen zu können.
Sagen wir’s doch knapp: Keine wirkliche Pädagogik kann
auch nur auf eine Vermittlung von Wissen bestehen, wenn nicht die
Erfahrung damit verbunden ist – und Anbiederung hat nichts
mit Pädagogik zu tun!