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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 25
52. Jahrgang | Februar
Hochschule
Rock ist für die Jugend so entfernt wie Mozart
„Musik für junge Ohren“: ein Symposion in Saarbrücken
zur Vermittlung aktueller Vokalmusik
Ob man es „Musikalisch-ästhetische Bildungsarbeit“
nennt oder „Musik für junge Ohren“ – es ist
ein wichtiges und viel diskutiertes Thema. In Saarbrücken ging
man es mit hochkarätigen Vorträgen und originellen Workshops
an; Veranstalter war das Netzwerk Saar in Zusammenarbeit mit Musikhochschule
und Universität des Saarlandes. Der Eintritt war frei, alle
Kosten, so wurde mit berechtigtem Stolz betont, trug das Netzwerk
mit Hilfe privater Sponsoren, allen voran die Union-Stiftung.
E inhundertvierzig Kinder wippten erwartungsvoll auf Sitzkissen,
als Michael Dartsch, Professor für Musikpädagogik an der
Saarbrücker Hochschule, ganz unprofessoral über die Bühne
eilte und den ersten Workshop in Gang brachte. Vokale und Konsonanten
wurden am eigenen Kehlkopf erprobt und in Ligetis „Aventures“
wiederentdeckt. Das ganze Spektrum der vielfältigen Möglichkeiten
und Stilbereiche der menschlichen Stimme entfaltete sich zwischen
einem rappendem Computer, Volksmusik, Girlie-Trend und Vokalkompositionen
von Schönberg bis Cage, szenisch phantasievoll auf die Bühne
gebracht. Zugleich eine beachtliche Talentprobe für die an
diesem „Konzert für junge Ohren“ beteiligten Studenten
der Musikpädagogik.
Dann waren die Kinder selber gefordert. Erstaunlich, wie selbstverständlich
sie vier patterns nach dem ersten Hören nachsangen und bald
darauf zu einem vierstimmigen Ensemble zusammenfügten.
Mit Sprache umgehen
Als Zuhörer ertappte man sich bei dem Gedanken, dass es ruhig
so hätte weitergehen können mit den „jungen Ohren“.
Doch nun waren erst einmal die Musikwissenschaftler an der Reihe,
um sich mit der anderen Hälfte des Arbeitstitels, der „aktuellen
Vokalmusik“, zu befassen. Professor Wilfried Gruhn (Freiburg)
sprach über Janáceks „Kátia Kabanová“;
Professor Wolf Frobenius (Saarbrücken) untersuchte die Sprachvertonung
in Schönbergs „Erwartung“. Professor Herbert Schneider
(Saarbrücken) hatte Ravels „L’Enfant et les sortilèges“
zum Thema gewählt und Professor Renate Jung-Kaiser (Frankfurt)
den „Oedipus Rex“ von Strawinsky. Den Eröffnungsvortrag
hatte der neue Saarbrücker Professor für Schulmusikpädagogik,
Christian Rolle, übernommen. Nach einer Würdigung seines
verdienten und renommierten Vorgängers Professor Klaus Velten
stellte er im überfüllten Hörsaal seine musikdidaktische
Positionsbestimmung vor.
Sein Vorschlag: auf den Begriff der „Vermittlung“
zu verzichten und an seine Stelle den der Erfahrung zu setzen. Denn:
„Musikalische Bildung kann stattfinden, wenn Menschen im Umgang
mit Musik ästhetische Erfahrungen machen. Musikpädagogisches
Handeln sollte deshalb vielfältige Räume für musikalisches
Handeln eröffnen, in denen solche ästhetischen Erfahrungen
möglich sind, angeregt und unterstützt werden.“
Der verbreiteten Auffassung, dass mit Sätzen wie: „Dieses
Musikstück ist schön“ oder ähnlichen lediglich
der persönliche Geschmack bekundet werde, dass es sich also
gar nicht um richtige Urteile handele, setzt Rolle entgegen, dass
nur solche Urteile ästhetische genannt werden sollten, die
mit einem intersubjektiven Geltungsanspruch auftreten. „Einen
solchen Anspruch erhebt, wer andere davon zu überzeugen versucht,
(...) nicht nur für ihn sei das Stück von Wert, sondern
es sei ein aussichtsreicher Kandidat ästhetischer Wertschätzung
auch für die anderen.“ Lehrer/-innen sieht Rolle damit
„als Mediatoren im ästhetischen Streit ihrer Schülerinnen
und Schüler.“ Bedauerlich, wenn auch bei derartigen Symposien
wohl unvermeidlich, dass sechs hochkarätige Beiträge einschließlich
Mittagspause auf den Zeitraum von fünfeinhalb Stunden zusammengedrängt
waren – jeder hätte etwas Raum zum Nachklingen verdient.
Cis-umsungend
Einblick in die Arbeit des Komponisten mit Wort und Musik gab
der Saarbrücker Professor Theo Brandmüller. Schon der
irritierende Titel seines Chorwerkes „Cis-umsungend“
sei „Kind einer Umwandlungsgrammatik“. Temperamentvoll
zwischen Sprachspielen, barockisierenden Wort- und Satzballungen
und philosophischen Exkursen jonglierend, erläuterte Brandmüller
mit Klangbeispielen und projizierten Partiturseiten, „wie
eine relativ eindeutige Metasprachlichkeit verlassen wird zugunsten
einer Dominanz des Klanglich-Phonemhaften.“ Denn: „Musik
gibt nichts Hörbares wieder, sondern macht hörbar“,
so Brandmüller, frei nach Paul Klee.
So kam man beim Hören ins Grübeln: Ist diese Musik „schön“,
weil man die ihr zugrundeliegenden komplizierten Strukturen gar
nicht bemerkt, oder ist sie schön, weil man diese unbewusst
wahrnimmt?
Grafische Partituren szenisch
Aber nicht abgebrühten Rezensenten wollte man Derartiges
vorführen, sondern „jungen Ohren“. Und die sollten
mitmachen. Am zweiten Tag konnte man unterschiedliche Ansätze
dazu beobachten.
Den Anfang machte Wolfgang Rüdiger, Professor für Musikpädagogik
in Düsseldorf, mit Oberstufen-Schülern zweier Saarbrücker
Gymnasien. Der Komponist Leon Schidlowsky (geb. 1931) hatte sein
Gedicht „Am Grab Kafkas“ als grafische Partitur aufgezeichnet,
(weitere Arbeiten von ihm waren schon 1996 in der Saarbrücker
Stadtgalerie zu sehen), die von den Schülern nun phonetisch
und szenisch umgesetzt wurde. Doch jede Altersstufe braucht einen
anderen Ansatz. So trat der Kinderlieder-Macher Unmada Manfred Kindel
mit Piratenhut und Stoffpapagei vor seine drei- bis sechsjährigen
Pipapo-Piraten und entführte sie auf große Fahrt. „Seht
Ihr da oben die Wolken?“ Natürlich sehen sie alles, was
er suggeriert, hissen mit großen Gesten die Segel, schwanken
im Sturm und erkennen deutlich die verheißene Insel. Und kreischen
„He!“ und jubeln „Banane!“, wenn Kindel
seine kleinen Nonsense-Gedichtchen bringt, und finden selber passende
Reimwörter dazu. Und wieder einmal war man entwaffnet von der
natürlichen Begabung kleiner Kinder, von der Frische, mit der
sie alles aufnehmen und wie geschickt sie alles nachahmen. Nicht
anders beim Workshop von Uli Führe, dessen Kinderlieder in
viele Schulbücher Eingang fanden. Spielerisch brachte er etwas
älteren Kinder Lieder bei und animierte sie, sie pantomimisch
und agogisch zu – tja, „interpretieren“?
„Rock ist so fern wie Mozart.“
„Aktuelle Musik für junge Ohren?“ Beim abschließenden
Round Table wurde deutlich, wieviel Sprengstoff auch ein bescheidener
Titel in sich bergen kann. Der Lehrer, die Theaterpädagogin,
der Kulturpolitiker, der Musikwissenschaftler, die Vorschullehrerin,
der Schulmusikstudent – jeder hatte etwas anderes zum Thema
beizutragen.
Was heißt eigentlich „aktuell“? Worauf von einem
Referendar berichtet wurde, der seiner Klasse so richtig voll krass
mit Rock’n Roll kommen wollte und – auf gähnende
Langeweile stieß. „Rock ist für die heutige Jugend
so fern wie Mozart.“ Dartsch warnte vor der Illusion, man
könne Kindern „beibringen, wie man Musik erlebt“.
Ein Vater berichtete von einem mit Fachchinesisch gespickten Aufsatz
seines Sohnes für den „Musikunterricht“ und forderte,
der müsse wieder zum wahrhaft musischen Fach werden. „Musikalisch“,
ergänzte ein anderer. „Ja, aber“, meinte Rolle.
Der Lehrer müsse auch lernen, wissenschaftlich zu arbeiten,
schon um sich lebenslang weiterbilden zu können.
So geriet die Diskussion zwangsläufig so tief in die allgemeine
Schul- und Bildungsproblematik, dass der Verleger und Musikmoderator
Theo Geissler als Gesprächsleiter wiederholt bremsen musste.
Resümee: Dieses Symposion darf kein Einzelfall bleiben –
zu weit ist das Feld, zu viele Fragen bleiben offen, zu viel Tradiertes
muss durch Neues ersetzt werden (das dann wieder veraltet sein wird).
Schon Theo Brandmüller hatte gewarnt: „Traditionen sind
wie Laternen: Sie leuchten auf dem Weg, doch nur Betrunkene halten
sich daran fest.“