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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 48
52. Jahrgang | Februar
Nachschlag
Jenseits von Pisa
Es ist schon verwunderlich. Da dreht der französische Dokumentarfilmer
Nicolas Philibert in einer abgelegenen Gegend der höheren Auvergne
einen Streifen über einen Schullehrer und seine Schüler:
in einer Zwergschule, die mehrere Klassenstufen vereint. Um die
fünf Jahre mag der Altersunterschied der Kinder betragen.
Lernsequenzen, Gespräche mit Eltern, Streitigkeiten in der
Pause, kleine Strafen, kleine Belohnungen, Ausgelassenheiten beim
Schlittenfahren, Wehmut, Bedrücktheit und auch Freude am Ende
des Schuljahres: Das alles klingt nicht so, als könne man damit
einen Produzenten finanziell hinter dem Ofen hervor locken, noch
dazu, wenn man die Notwendigkeit betont, das Schulleben über
ein ganzes Jahr hinweg zu filmen. In Auftrag gegeben war der Film
von einem französischen Fernsehkanal. Die Fernsehausstrahlungen
wurden ein überraschend großer Erfolg und man beschloss,
den Dokumentarfilm in die Kinos zu bringen. Titel: Sein und Haben.
Und auch hier zeigt sich bereits überwältigende Resonanz.
Man muss nach den Gründen fragen. Warum stellt man nach diesem
Film nicht mehr die Frage nach PISA-Studien, warum gewinnt man wieder
Vertrauen zum Menschen unabhängig von High-Tech-Lenkung und
von virtuellen Chimären, warum hat man das Gefühl, den
Film als gereifterer, ja als besserer Mensch zu verlassen? Spätestens
hier sind wir bei einem gesamtkulturellen Aspekt, der spezifische
Fragen der Filmkunst weit hinter sich lässt. Wirklich stößt
„Sein und Haben“ in eine defizitäre Landschaft
vor, die unsere Kahlschlagskultur mit immer größeren
Verwüstungen im Geistigen und Sinnlichen geschaffen hat und
alltäglich weiter produziert. Auf der Strecke bleibt der Mensch.
Der aber steht in „Sein und Haben“ im Zentrum: in seiner
komplexen Einfachheit, in seinem Netzwerk aus Ängsten, Wünschen,
Aggressionen, Zuneigungen. Freilich gelang hier ein Glücksfall.
Der Lehrer – und jeder, der den Film sieht, erkennt, dass
hier nichts gestellt oder geschönt wurde – ist das Idealbild
eines Lehrers, voller Überzeugung in sein Tun, voller geduldiger
Hinwendung zu jedem einzelnen Schüler, von denen jeder anderen
Zugang, andere Formen der Ansprache braucht. Unser beliebtes und
so oft strapaziertes Wort Stress wäre wohl für viele die
Bezeichnung solcher Anforderung. Hier aber, und das betrachtende
Schweifen über die weiten Hügellandschaften der Auvergne
bestätigt dies, scheint sich die Zeit zu weiten, nichts drängt,
Luft zum Atmen bleibt. Und die Kamera geht diesen Rhythmus mit,
sie lässt sich Zeit, Tiefe der Betrachtung ersetzt die uns
als so unentbehrlich aufgeschwätzte „Action“. 100
Minuten Spannung entstehen, weil uns alles ganz im Inneren angeht.
Vieles steht danach anders da oder wirkt dumm. Was macht der Begriff
von der Achse des Bösen gegenüber dem Gespräch des
Lehrers mit zwei Schülern, die sich geprügelt haben? Was
macht die Angst vor dem Nullwachstum gegenüber der hier vermittelten
Erkenntnis, wie viel Soziales und Geistiges (ohne Gewinnmaximierung)
unbegrenzt wachsen kann? Was macht unser digitalisiertes und tabellarisiertes
Bewusstsein, wenn es den Menschen nicht mehr sieht? Der Film von
Philibert legt den Finger auf die Wunde. Er formuliert die Begriffe
Erziehung und Kultur neu, indem er zu deren Wurzeln zurück
kehrt.