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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 40
52. Jahrgang | Februar
Jazz, Rock, Pop
Hörfeld und Musikgeschichtsbild erweitern
Warum die Jazzimprovisation für „Klassiker/-innen“
an einer Musikhochschule wichtig ist
Unser Hamburger Jazz-Lehrbetrieb fußt seit 1985 auf einem
„Zwei-Säulen-Modell“: Neben den Jazzfächern
Instrumentales Hauptfach, Theorie (Harmonielehre, Improvisation,
Arrangement, Komposition), Rhythmusschulung (mit Gehörschulung/Ear
Training), Jazzgeschichte/Werkanalyse und Ensemblespiel haben die
Studierenden fast alle klassischen Fächer zu absolvieren, wie
sie auch für „nur klassische“ DML-Studenten verbindlich
sind, vor allem aber kommen sie in den Genuss von klassischem Unterricht
im instrumentalen Hauptfach über sechs Semester, immer noch
eine Besonderheit im Rahmen der Jazzprogramme fast aller deutschen
Musikhochschulen. Ziel des klassischen instrumentalen Hauptfaches
ist ästhetische Kenntnis und individuell größtmögliche
technische Beherrschung des Instruments im Bereich der großen
westlichen Tradition, bei verständlicherweise stark eingeschränkter
Repertoiremenge. (Dazu als Anmerkung: Unsere Jazz-Ausbildung läuft
derzeit unter ,DML‘, ist aber de facto ein künstlerischer
Studiengang).
Unter dem Motto „Free
again“ feiert die Hochschule den 65. Geburtstag Dieter
Glawischnigs. Live dabei: Die NDR-Bigband, Dietmar Mues,
das JazzHaus-Orchestra sowie zahlreiche ehemalige Schüler
des Meisters. Ein Höhepunkt: die Uraufführung
der 3. Komposition von Dieter Glawischnig nach Texten von
Ernst Jandl, „Jedes Ich Nackt“. Foto: Thomas
Schlömann
Warum nicht auch eine kleine, ,aber feine‘ zweite Säule
in der klassischen Ausbildung? Grundkenntnisse der Jazzpraxis wären
für alle Musikstudierenden wünschenswert: Schulmusik-
und DML-Studierende haben es in ihrer Alltagspraxis mit eingeschworenen
MTV/VIVA-Hörer/-innen zu tun.
Es wird einiger Kenntnisse und auch taktisch-rattenfängerischer
Fähigkeiten bedürfen, um das Hörfeld der Jungs und
Mädels und deren ,Musikgeschichtsbild‘ zu erweitern –
statistische Erhebungen bezüglich der Hörgewohnheiten
Jugendlicher zeigen ja den prägenden Einfluss der mit größtem
Werbeaufwand kommerziell instrumentalisierten Popmusik.
Alle Studierenden in den künstlerischen Ausbildungsgängen
(Klavier, Orgel, Orchesterinstrumente, vielleicht auch Gesang?)
sollten zumin-dest eine Ahnung der sogenannten Jazz/Rock-Phrasierung
bekommen können, wenn sie sich schon nicht auf den mühevollen
Weg der Erlernung eines lmprovisationsvokabulars aus eigenen Stücken
gedrängt fühlen.
Vorbehalte der klassischen Fraktion, wie: Saxophonspielen zerstöre
den Klarinettenansatz (natürlich empfiehlt es sich nicht, bis
19.30 Uhr Baritonsaxophon zu üben, wenn man um 20.00 Uhr das
Klarinettenkonzert von Mozart spielen will), der klassische Ton
der Blechbläser wäre durch den Jazz-attack gefährdet,
Pianisten versteiften sich im Handgelenk durch das Jazzspielen (na
net, wann‘s ka Technik habn) halten sich seit Jahrzehnten,
gehören aber ins Reich der Fabel und sind durch Könner,
sozialisiert in beiden Bereichen, widerlegt.
Von zeitgenössischen Komponist/-innen und Theoretiker/-innen
müsste eine wenigstens theoretische Beherrschung des umfangreichen
Jazz/Rock/Pop-Materials erwartet werden können. Bedauerlicherweise
haben viele Professoren-Kolleginnen und -Kollegen erfahrungsgemäß
mit Jazz „nichts am Hut“. Ausnahmen bestätigen
die Regel, etwa diejenigen Besucherinnen und Besucher der FORUM-Jazzkonzerte,
die über die Jahre an den Fingern beider Hände abgezählt
werden können. (Selbst diese machen vom großen qualitätvollen
Angebot in der Hamburger Szene außerhalb der Hochschule kaum
Gebrauch).
Zur emotionalen Beruhigung sei gesagt: Es geht ja nicht darum,
ansozialisierte ästhetische Haltungen bei fortgeschrittenem
Alter zu revolutionieren, etwa unter dem Motto ,weg mit Brahms oder
Ligeti, alles für Coltrane‘, wohl aber ginge es um Behebung
von Ignoranz im Sinne von Nichtwissen, vielleicht zur eigenen Bereicherung,
sicherlich aber zum Nutzen der Studierenden. Die Möglichkeit,
auf kommerzielle Banalitäten hereinzufallen, wäre vermindert.
Kenntnisse auf dem Gebiet von Jazz und jazzverwandter Musik wären
auch ein Zeichen von zeitgenössischer Professionalität.
Improvisation ist das Kernstück im Bereich des Jazz. Unsere
,wirklichen‘ Klassiker, nicht nur von Beethoven aufwärts,
haben alle improvisiert. Die Gründe, warum sich das lmprovisieren
im Verlauf des 19. Jh. verflüchtigt hat – sogar die Kadenzen
in den großen Instrumentalkonzerten wurden letztlich ausgeschrieben
– wurden in musikwissenschaftlicher Arbeit herauskristallisiert.
Seither gilt in der Hauptsache Komposition, mit Papier, Bleistift,
Radiergummi und Tinte, neuerdings auch mit Computer.
Die Unterscheidung von ‚Kreation‘ und ,Interpretation‘
steht immer noch auf der Tagesordnung: Interpretiert wird die komponierte
Musik, die in den Köpfen und Herzen anderer Menschen entstanden
ist, und sie muss weiterhin auf höchst meisterhafte Weise interpretiert
werden. Improvisation als kreativer Akt auf welchem Materialniveau
auch immer, ermöglicht ein eigenes Tun, etwas in die Welt zu
setzen, was es ,so‘ noch nicht gab. (Dass auch auf diesem
Sektor die imaginäre Bruchlinie zwischen ‚Mainstream
und Avantgarde‘ heftig debattiert wird, sei nur nebenbei erwähnt).
Dazu kommt der kommunikative Aspekt: Jazz ist zu allererst interaktive
improvisierte Kammermusik!
Eigenes kann entstehen, ohne puristischen Zwang zum experimentell
Neuen. Damit verbunden ist bei manchen die Hoffnung auf eine Veränderung
der Dinge durch eine herausfordernde Veränderung der Kunst,
„Vielleicht dass eine Formel gelingt, die etwas bewirkt“
(Ernst Jandl). Diejenigen, die die goldenen Köpfe der Klassiker
und jeglicher Normen verteidigen, sind die Zielscheibe, wenn mit
Mitteln der Kunst die Vorstellung von Normalität vorsätzlich
und lustvoll zerstört wird. Nicht die Tradition wird zerstört,
zu ihr besteht ein dynamisches Verhältnis. Dazu gehört,
sie zu kennen, zu wissen, was bisher geschah, die passenden Ansatzpunkte
für Eigenes zu finden, nicht zu Ende Geführtes auszubauen.
Eine neue Musik, wenn sie Bedeutung hat, ändert die eigenen
Vorstellungen von Kunst und Leben.
Auch die Jazzer/-innen sind daran, zahlreich und gleichzeitig
sich ein eigenes Modell von Freiheit zu zimmern, Töne einmal
so, und dann so zu verwenden. Zur unvermeidlichen Auseinandersetzung
mit den Hörgewohnheiten des Publikums kommt als weitere Front
die Realität der Medien hinzu: Das Schielen nach der Einschaltquote
und der Blickwinkel der Kalkulation auf Produkte, die möglichst
schnell und in Massen verkauft werden können, engt den Handlungsspielraum,
auch gutwilliger und verständnisvoller Förderinnen und
Förderer, ein.
Ceterum censeo..: Klassisch ausgebildete Instrumentalist/-innen,
Schulmusiker/-innen, Diplommusiklehrer/-innen, Sänger/-innen,
Komponist/-innen können einen Zugang zu diesem weiten Feld
,nachsozialisieren‘, wenn sie es wollen, es gibt erfahrungsgemäß
Hoffnung, ,wenn Hänschen nicht swingt, swingt Hans nimmermehr‘
gilt nur beschränkt. Aus allen Anforderungen einer möglichst
umfassenden pädagogischen Kompetenz sollten sie es wollen.
Also: Jazz als „Universität der Unterhaltungsmusik“
(Fritz Rau) durch eine maßvoll verpflichtende Verankerung
im Fächerkatalog vielleicht sogar wollen müssen (die zur
Zeit laufenden Strukturdebatten bieten eine gute Gelegenheit zum
Überdenken der ganzen Sache). Außer Programm noch ein
Vorschlag zur mondialen Gesundung, ihr unsäglichen Globalisierer
hört die Signale: lmprovisationspflicht statt Wehrpflicht,
bis jetzt in Gottes Ohr, wohin sonst?