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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 40
52. Jahrgang | Februar
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Alte Mythen
Nietzsche stöhnte unter der Last des von anderen schon gelebten
Lebens, unter dem Alpdruck der Geschichte. Sein Kampfruf, den sich
dann die meisten Avantgarden des späten 19. und des frühen
20. Jahrhunderts zu eigen machten, lautete: tabula rasa, reinen
Tisch machen, damit das Neue, „Vitale“ eine Chance hat.
Aber es war ein gebrochener, paradoxer Vitalismus, der sich da äußerte:
der eines Décadents, der an Differenzierungsschmerzen, an
Subtilitäten aller Art, an grenzenlosem Verstehen litt. Die
blonde Bestie war nur die Maske des Bildungsbürgers, der vom
anderen Zustand, von Rausch, Authentizität und Erlösung
träumte.
Pop siedelt sich jenseits der Paradoxien und Katastrophen des
letzten Jahrhunderts an. Die reflexiv gewordene Kulturindustrie
weiß, dass das Uralte Revers und Steinbruch des ganz Neuen
ist. Ausgerechnet in den Alten Mythen entdeckt sie das Potential
einer Selbsterfindung, die nie abgeschlossen ist. Authentisch kann
für sie nur sein, was ein vertrautes Muster variiert.
Niemand beherrscht dies derzeit so virtuos und suggestiv wie Judy
Niemack. Sie schafft es, sogar das, was jeder kennt, in ein persönliches
Bekenntnis zu verwandeln. Vielleicht hat erst „As Time Goes
By“ aus „Casablanca“ den Kino-Klassiker gemacht,
den nicht nur der Stadtneurotiker Woody Allen so ergriffen nachbuchstabierte,
als ginge es um das eigene Leben. „Imitation of Life“
wird zum ens realissimum des Medienzeitalters, als konzentrierte
sich das Dasein, das ansonsten haltlos verfließt, auf der
Leinwand und in den Songs aus den Lautsprechern. Judy Niemack macht
aus der überlebensgroßen Sentimentalität des Vorbilds
eine intime Erkundung, die kammermusikalische Recherche einer Spätzeit,
der Pathos eher peinlich ist, obwohl sie natürlich von ihm
zehrt. Fast alle Songs auf „About Time“ (Sony) sind
Cover-Versionen, Reprisen von Klassikern, in sparsamen Arrangements,
die, ebenfalls ein Paradox, die Intensität und das Brüchige
der Vorlagen eher noch steigern. Was bei Cyndi Lauper einst ein
dreckiger Pop-Song war, was dann bei Miles Davis mit seinem erstickend-flirrenden
späten Trompetenton zum Manifest einer immer schon von Glück
und Schmerz gleichermaßen versehrten Existenz wurde, das ist
jetzt bei Judy Niemack eine intime Etüde über Zeitvergehen,
Sterblichkeit, das Zerbrechliche unserer Erinnerungen wie unserer
Sehnsüchte. Dass die menschliche Existenz stets eine gejagte
und eine jagende ist, das ist das gemeinsame Thema dieses Albums,
das der Zeit gewidmet ist, der Zeit als der hervorbringenden und
der vernichtenden Macht par excellence.
Es gibt Klassiker von Leonard Bernstein („Some Other Time“)
und Thelonious Monk („Round Midnight“) zu hören,
dazu Kompositionen von Rodgers/Hart und Bill Evans. Von Bill Evans
kommt auch der Bassist Eddie Gomez. Mit von der Partie ist außerdem
Lee Konitz, ein Mastermind der Cool-Jazz-Ära, Rivale und Alternative
zu Charlie Parker in den frühen 50-er Jahren und selbst ein
Zeitreisender, ein versetzter Mythos, der seine Geschichten auf
dem Alt-Saxophon weitererzählt.
Gebrochenheiten ganz anderer Art finden sich auf Terre Thaemlitz‘
„Lovebomb“ (Mille Plateaux 117). Seine Tracks geben
sich nicht mit Illusionen oder Inszenierungen zufrieden, sie schneiden
tief ins Fleisch einer bösen Realität, die Mythen errichtet,
weil sie unmaskiert, vor aller Augen nicht weiterbestehen könnte.
Thaemlitz ist als Musiker vor allem ein Freak der Recherche und
ein Dekonstruktivist; er demontiert die herrschenden Bilder und
Semantiken. Er glaubt nur an das, was er selbst zerlegt und neu
zusammengesetzt hat. Sein Album versammelt unerhörte Weltmusik
einer bisher nicht vertrauten Art; die Töne folgen keiner üblichen
Ordnung, sondern dem Rauschen des Wirklichen. Wie bei John Cage
oder der musique concrète gibt es die Faszination des isolierten
Geräuschs, des Lärmens der Realität, auch der Stille,
der Unterbrechung des Gangs der Dinge. Thaemlitz Ästhetik ist
fragmentarisch und sehr dinghaft; sie lebt auf paradoxe Weise vom
Reiz des Materials, sie ist parasitär und kannibalisch, aber
auf eine zornige, zerstörerische Weise. Und sie stört
den Lauf der Geschichte oder zumindest der Geschichtsschreibung,
indem sie Verbindungen herstellt, wo man sie vielleicht nicht vermutet;
etwa zwischen dem mythischen, immer wieder neu interpretierten Song
„Strange Fruit“, der nicht nur von der Lynchjustiz des
weißen Mobs an drei Schwarzen, sondern vom Elend des Rassismus
erzählt, und den etwa zur selben Zeit entstehenden Manifesten
des Futurismus, die vom Rausch der Geschwindigkeit und der Kälte
und von einem herrenmenschlichen, maschinenseligen Immoralismus
künden. Das Wunderbare an Thaemlitz‘ Musik: dass sie
fast verschwindet und es doch schafft, aus den vertrauten Geräuschen
der Herrschaft einen betörenden Gegen-Mythos zu schaffen. Auf
einem weiteren, in diesen Tagen erscheinenden Album („Replay
Debussy“, Universal Classics) vermag es Terre Thaemlitz, durch
wenige Schnitte und Verrückungen das „Prélude
à l‘après-midi d’un faun“ so zu
verfremden, dass jede falsche Vertrautheit, immer schon erfolgte
Aneignung und bildungsbesitzbürgerliche Nähe zerstört
wird.
Manche Mythen kehren als Farcen oder als Gespenster wieder. Jürgen
Teipels Punk-Doku-Roman „Verschwende Deine Jugend“ hat
nicht nur die Fehlfarben, sondern auch die Deutsch-Amerikanische
Freundschaft, kurz DAF, wiederbelebt. Auf ihrem DAF-Recycling-Comeback
„Kinderzimmer (Heldenlied)“ (Universal) erinnern sie
sich jetzt an ihr eigenes Jugendzimmer-Ambiente, wo Andreas Baader
neben Bruce Lee Platz fand und eine Ulrike Meinhof à la mode
genauso sexy war wie Raquel Welch. Im Zweifelsfall ist diese neueste
Ästhetisierung der Politik zwar auf der Höhe der Zeit,
aber nicht mehr als Subversion vertrauter Muster, sondern als Symptom
einer Prada-Meinhof-Ära bedenkenloser Hipness.