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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 20
52. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Aufregender Nebenschauplatz
Dokumentationen über Glenn Gould und Renée Fleming
auf DVD-Video
Oper und DVD-Video – eine unschlagbare Kombination, die die
silberne Wunderscheibe zum Senkrechtstarter unter den neuen Musik-Datenträgern
machte. Doch jenseits der hohen Cs finden sich aufregende Nebenschauplätze
der DVD-Diskografie, etwa personen-bezogene Musik-Dokumentationen.
Alchimist des Klaviers,
Eremit und Ausnahmekünstler: Glenn Gould. Foto: EMI
Oft geraten diese Filme spannender als jede Biografie. Nichts gegen
ein gut recherchiertes Buch, das die Phantasie des Lesers beflügelt.
Doch wenn Robert Palmer hinter der Kamera steht, rückt einem
das Schicksal der porträtierten Persönlichkeit wirklich
nahe. Schon in seinem mittlerweile klassischen Streifen über
die Callas machte Palmer keinen Bogen um die Schattenseiten einer
Karriere im kommerzialisierten Klassik-Business. In dieser Hinsicht
ist sein neues Porträt „Ladies and Gentlemen, Miss Renée
Fleming...“ noch aufrichtiger. Und man kann nur darüber
staunen, dass die cremigen Töne der Fleming nach wie vor strömen
wie Flüsse aus Milch und Honig – so offenherzig spricht
sie über ihre Probleme mit dem Opern-Zirkus: die eigene Schüchternheit,
die ständige Angst zu versagen oder die Schwierigkeit, Familie
und Karriere unter einen Hut zu kriegen. Man begegnet einem Menschen,
nicht einer Diva.
Eine pessimistische Abrechnung braucht dennoch keiner zu fürchten.
Geschickt kombiniert Palmer Flemings Aussagen mit Momentaufnahmen
aus dem Alltags-Leben eines Stars: etwa „Othello“-Proben
an der Seite von Ben Heppner, Aufnahme-Sitzungen zum Verdi-Requiem
unter Gergiev, Small-Talk bei offiziellen Terminen. Zur Musik: Im
Bonus-Teil singt Fleming Jazz-Standards und eigens aufgezeichnete
Arien, die leider selten am Stück ausgespielt werden. Was zählt
ist ohnehin die Stimme der Fleming: reinste Wonnen des Wohllauts.
Noch ein wenig kunst- und anspruchsvoller empfinde ich „The
Alchemist“. Hinter diesem Titel verbergen sich vier Kurzfilme
von Bruno Monsaingeon, die verschiedene Facetten des kanadischen
Klavier-Eremiten beleuchten: Seinen Rückzug von den internationalen
Konzert-Podien, die Arbeit im Plattenstudio, die aktuellen Projekte
im Jahr 1974, im letzten Teil spielt Gould die Bach „Partita
Nr. 6“. Ein Jahr lang arbeiteten Monsaingeon und Gould allein
am Drehbuch – eine Mischung aus Kunst- und Dokumentarfilm.
Die wahren Gould-Fans werden an dieser DVD kaum vorbei können.
Zwei Dinge machen das Porträt zu einem derart besonderen Erlebnis:
Nicht die nackte Realität wurde abgelichtet, sondern ihre Rekonstruktion.
Was damit gemeint ist, wird im zweiten Teil deutlich: Hier wurde
eine Aufnahme im Studio inszeniert. Das ging soweit, dass genau
festgelegt wurde, an welcher Stelle der „Englischen Suite“
Gould versuchen sollte, eine falsche Note zu spielen. Auf der anderen
Seite trifft man hier auch den Menschen Gould: Ganz frei und offen
wirken die Gespräche zwischen Monsaingeon und Gould, der seine
Interviewpartner sonst auf die Rolle von Stichwortgebern degradierte.
Daneben ist der Kanadier mit Stücken von Wagner, Skrjabin,
Berg und seinem Lieblingskomponisten Orlando Gibbons immer wieder
auch am Klavier zu erleben.
Oliver Wazola
Ladies and Gentlemen, Miss Renée Fleming...: Ellington,
Gershwin, Korngold, Mozart, Massenet, Puccini, Rachmaninoff, Strauss
u.a.; Regie: Robert Palmer (2002)
Decca/Universal DVD 074 153-9 (122‘)
Glenn Gould – The Alchemist: Bach, Berg, Gibbons, Wagner,
Webern u.a.; Drehbuch: Bruno Monsaingeon (1974)
EMI DVD 4901279 (157’)