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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 17
52. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Freiheiten im abgegrenzten Gebiet des Kollektivismus
Erbschaften Neuer Musik der DDR auf Wiederveröffentlichungen
von Berlin Classics
Der sozialistische Realismus war eine Konfektionsgrösse, die
sich nicht alle Komponisten und Musiker in der ehemaligen DDR anzogen.
Manche hatten (und haben heute noch, sofern sie nicht gestorben
sind) einen durchaus kritischen Blick fürs Eigene, ihnen individuell
Gemäße. Was nicht unbedingt radikaler Nonformismus bedeuten
musste, aber zumindest auch nicht unbedingter Affirmatismus.
Die Oper „Der Schuhu und die fliegende Prinzessin“,
die Udo Zimmermann (geb 1943) nach einem Märchen von Peter
Hacks schrieb, deutet auf ein „Land ihrer Sehnsucht“,
wo die Menschen freundlich sind. Der erzählende Leierkastenmann
kontrastiert mit der szenischen Darstellung und der kargen Klangkulisse.
Volkskunst, drängende Orchesterpartien und lyrische Gesänge
bilden einen kräftigen Spannungsbogen. Die unerwünschte
Liebe des menschenähnlichen Schuhu, zur Prinzessin kann sich
trotz ihrer Isolation erhalten, als liebende Einzelne überwinden
sie gesellschaftliche Zwänge. In gewisser Weise ist diese Oper,
deren ästhetisches Modell an Strawinskys „L’histoire
du soldat“ erinnert, eine subtile Auflehnung gegen den Kollektivismus.
Der Komponist und das Happening:
Friedrich Schenker im Leipziger Club naTo. Foto: Roland
Heinrich
Näher an der Avantgarde des Westens ist Friedrich Goldmann
(geb. 1941). Seine Sinfonie 1 entlehnt jazzige Motorik und komplexe
dramatische Entwicklungen in den Ecksätzen, während das
Lento fast impressionistische Klangflächen hat. Dichter ist
das polyphone Netz in der Sinfonie 3, in der das feine Gewebe um
Haltetöne vibriert, wie ein Spinnenopfer. Symbol für eine
resignative Protesthaltung?
Atonal grell ist die „Flötensinfonie“ von Friedrich
Schenker (geb. 1942), bei der sich drei Solisten virtuos mit Verschiebungen
der Klangfarben zu intensiven Dialogen mit dem Orchester verbinden.
Als Gegensatz von Konsonanz und Dissonanz im freien Metrum hat Reiner
Bredemeyer (1929-1996) sein „Oboenkonzert“ strukturiert.
Metallische Perkussion, eng liegende Streicherfäden und sprudelnde
Rhetorik der Oboe sind wie sich überschneidende Gesprächsebenen
gestaltet. Das „Schlagstück 5“ für Klavier
und Perkussion hingegen entwickelt sich wie ein improvisierendes
Jazzduo, freche Ironie zeigt sich in den „Bagatellen“
nach Beethoven. Stilistisch hat Bredemeyer von allen hier vorgestellten
Komponisten das breiteste Spektrum.
Gedenken der Opfer faschistischer Gewalt ist „Engführung“
(nach Texten von Paul Celan). Paul-Heinz Dittrich (geb. 1930) hat
in diesem Oratorium in der Asche der Toten nach Resten menschlicher
Würde gekratzt, nach den Tränen und dem Leid gehorcht,
und dennoch „eine Vision des einlösbaren Glücks
und der Freiheit“ in die Partien des Solosoprans (hervorragend:
Sigune von Osten) entdeckt. Dieses Werk hat vielleicht inhaltlich
der offiziellen Lesart der Geschichte entsprochen, in seiner Partitur,
die subtil Celans Verskunst folgt, hat es Qualitäten von nobler
Menschenwürde. Ganz so ernst ist die „Kammermusik V“
nicht. Dennoch entfaltet Dittrich hier einen unkonventionellen Diskurs
aus solistischem und Ensemblespiel. Hall, Echo und andere Live-Elektronik
Effekte lockern die strenge Tonsprache auf. Skurrile Linearität
mit lachenden, schimpfenden und klatschenden Phrasen hat die „Zusammenstellung
– Musik für Bläser“ von Friedrich Goldmann.
Auch die Groteske hatte also einen Platz im Kleiderschrank der Neuen
Musik.
Nun war die DDR nicht gerade ein offenes Forum für unangepasste
Klänge. Deshalb haben Komponisten, sofern sie nicht anders
abgesichert waren, auch für Filme, sowie Radio- und Fernsehproduktionen
geschrieben. Aus der Garderobe ihrer Neuen Musik sind für die
Reihe „NOVA rediscovered“ solche Werke sorgfältig
ausgewählt worden, die noch nicht von den Motten des Zeitgeistes
zerfressen sind, somit eine haltbare Substanz über den Tag
hinaus haben. Die bisher auf sechs CDs wieder veröffentlichten
Aufnahmen zeigen Formbewusstsein und relativ kompromisslose Stilniveaus,
mithin gewisse Freiheiten in abgegrenztem Gebiet. Die mit biografischen
Anmerkungen und genauen Werkbeschreibungen ausgestatteten Alben
präsentieren ein Erbe, das weiter erschlossen werden sollte.
Hans-Dieter Grünefeld
Diskografie
Neue Musik in der DDR
NOVA rediscovered, alle CDs bei Berlin Classics, edel
Udo Zimmermann: Der Schuhu und die fliegende Prinzessin –
Szenen
RSO Leipzig, Ltg.: Peter Gülke
BC 0013012
Friedrich Goldmann: Sinfonie 1 & 3
RSO Leipzig, Ltg.: Friedrich Goldmann
BC 0013022
Reiner Bredemeyer: Di As (+ -), Oboenkonzert u. a.;
Staatskapelle Berlin, Ltg.: Otmar Suitner
BC 0013032
Friedrich Schenker: Flötensinfonie;
Werner Tast: Flöte; RSO Leipzig, Ltg.: Wolf-Dieter Hauschild
BC 0013042
Paul-Heinz Dittrich: Engführung (nach Texten von Paul
Celan)
Sigune von Osten: Sopran; Vokal- und Instrumentalensemble; Dresdner
Philharmonie, Ltg.: Herbert Kegel
BC 0013052
Friedrich Goldmann: Zusammenstellung & Paul-Heinz Dittrich;
Kammermusik V, Bläservereinigung Berlin; Eckhard Rödger:
Synthesizer
BC 0013062