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nmz-archiv
nmz 2003/03 | Seite 3
52. Jahrgang | Februar
Zukunftswerkstatt
Über die gegenwärtigen Grenzen hinaus wirken
Kurt Suttner über das neue Chormusikfestival „Tage
der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg
Vom 30. Oktober bis zum 2. November 2003 werden in Aschaffenburg
zum ersten Male die „Tage der Neuen Chormusik“ veranstaltet.
Die Initiative geht zurück auf Kurt Suttner, der als vielfältiger
Ideengeber und als Leiter des Münchner via-nova-chors (man
feierte soeben den 30. Gründungstag) weit über die Chorszene
hinaus bekannt ist. Gedacht ist an ein Wochenende mit zeitgenössischer
Chormusik, in dem die Konzepte von Donaueschingen und Darmstadt
(Präsentation des neuesten Stands und Werkstatt, zurechtgeschnitten
auf die Bedingungen der Chormusik) verknüpft sind. Reinhard
Schulz sprach mit dem Initiator Kurt Suttner über das groß
angelegte, neue Projekt.
nmz: Gibt es bei uns so etwas wie eine Ideosynkrasie gegen
das Komponieren für Chor? Oder zumindest Relikte davon?
Suttner: Ich denke, dass bei uns die Ausbildung in erster
Linie auf instrumentales Komponieren hinausläuft. Wenn ein
Komponist, der meist vom Klavier her kommt, wenig Bezug zum Singen
hat, dann wird er nur schwer Zugang zur vokalen Praxis finden.
nmz: Wo kann man hier ansetzen?
Will Profis und Laien in
neuem Festival vereinen: Kurt Suttner. Foto: Archiv
Suttner: In der Zusammenarbeit von Komponisten mit Chören
sehe ich eine große Chance. Strawinsky hat einmal gesagt:
„Meine kompositorische Fantasie ist immer dann am stärksten,
wenn man mir klare Regeln gibt. Also: Was darf ich und was darf
ich nicht.“ Die Komponisten müssten ein größeres
Bewusstsein für die breite Basis entwickeln. Situationsabhängiges
Komponieren wäre dies.
nmz: Es wurden zu dieser Zeit, etwa ab den 60er-Jahren,
zunehmend Chorstücke geschrieben, ich denke an Nono, Ligeti,
Lachenmann, Schnebel, Holliger, die das Leistungsvermögen eines
Laienensembles weit überschritten haben.
Suttner: Da hat sich etwas auseinander entwickelt. Heute
ist eine große Kluft entstanden. Das vokale Denken ist bei
vielen Komponisten sehr viel stärker geworden, aber die Stücke
sind auf die wenigen Profichöre hin konzipiert, die es heute
gibt.
nmz: Was ist zu dieser Kluft zu sagen? Ist sie unüberbrückbar
manifest oder weichen die Grenzzonen inzwischen auf?
Suttner: Nun, sie weichen etwas auf, da inzwischen Chöre
auf quasi semiprofessionellem Niveau entstanden sind. Man muss hier
aber den Begriff „Profi“ hinterfragen. Profi ist nach
gängiger Definition, wer vom Singen lebt. Es gibt aber viele
Leute, die eine musikalisch profunde Ausbildung haben, aber etwas
anderes tun. Singen dann oft in Chören, die ein erstaunliches
Niveau entwickeln.
nmz: Heute wird in den Schulen kaum mehr gesungen.
Suttner: Und wenn, dann ist es meist Rockiges oder Poppiges.
Da möchte ich durchaus vorhandene Leistungen gar nicht schmälern,
aber wer an die Stimme denkt, der muss das problematisch finden,
weil die Pop- und Rockmusik vom Singen her bestimmte Qualitäten
gar nicht im Blickfeld hat.
Aber es geht nicht in der Schule los, sondern schon im Elternhaus.
Es gibt keinen singenden Vater mehr, allenfalls eine Mutter, eine
singende Kindergärtnerin gibt es auch kaum mehr. In der Grundschule
setzt sich das fort und den wirklich gut ausgebildeten Gymnasiallehrern
bleibt oft nur die Frustration. Dann kommt die PISA-Studie und deckt
Mängel in der Mathematik auf und das Kultusministerium sagt:
Mehr Mathematik. Das Basismenschliche wird nicht gesehen.
nmz: Und die Verbände?
Suttner: Der Deutsche Sängerbund ist durch die Tradition
immer noch einer der zahlenmäßig stärksten Verbände
hier. Mittlerweile gibt es auch da eine Jugendbewegung, die nach
Leistung strebt.
Die heutige Mobilität ist der Grund für die Bildung von
leistungsfähigen Chören mit größerem Einzugsgebiet
der Mitglieder und daher auch mit größerer musikalischer
Leistungsfähigkeit. Da gibt es wirklich ganz positive Ansätze.
Aber die Verankerung in der Basis wird immer schwächer.
Ich vergleiche das immer mit einer Pyramide. Diese muss eine breite
Basis haben und wird zur Spitze immer dünner. Spitze und Mittelschicht
sind bei uns immer noch vorhanden. Aber die Verankerung fehlt.
nmz: Aber es gibt doch viele weitere Aktivitäten, auch
internationale Treffen zum Beispiel.
Suttner: Ja, zum Beispiel „Europa cantat“.
Das wurde schon in den 50er -Jahren gegründet. Man merkte,
dass man sich auf der Basis gemeinsamen Singens auch international
verständigen kann, zum Beispiel zwischen Frankreich und Deutschland.
Hier werden auf den Festivals so genannte Ateliers eingerichtet,
wo hervorragende Chorleiter bestimmte Chorwerke erarbeiten. Hier
kann man als Chorsänger etwas erleben, was man zu Hause gar
nicht verwirklichen kann. Dann gibt es den AMJ oder auch IAM, die
die Tradition der Jugendmusikbewegung in moderner Form fortführen
und Singwochen anbieten.
Auch „Jugend musiziert“ hat seit einigen Jahren das
Singen entdeckt. Dann hat man Landesjugendchöre gegründet;
auch die Kirchen beginnen umzudenken und neue Initiativen zu entwickeln.
Also: Das Bewusstsein über die Bedeutung des Singens ist zumindest
diesbezüglich durchaus im Wachsen.
nmz: Jetzt versuchen Sie die „Tage der Neuen Chormusik“
zu installieren. Ende Oktober, Anfang November werden sie zum ersten
Mal stattfinden. Wie reiht sich dieses Konzept in die jetzige Landschaft
ein?
Suttner: Also auf diese Art ist das was ganz Neues.
Es gibt natürlich nationale und internationale Chorwettbewerbe
oder beispielsweise die Chorsymposien des IFCM (International Federation
for Choral Music) wo viel neue Chormusik gesungen wird, aber dieses
neue Konzept, wo wir versuchen, mit zeitgenössischer Musik
die professionelle Seite mit den Aktivitäten auf Laienbasis
zusammenzubringen, gibt es meines Wissens nirgendwo sonst. Es geht
vom hochspezialisierten Sänger bis zu Kinderchören. Und
der Kontakt von Kindern zu neuer Musik ist besonders wichtig aber
auch häufig viel unkom-
plizierter als man meint: Denn für Kinder ist ja alles neue
Musik, sei es ein Stück von Mozart oder eine Komposition, die
heute entsteht.
Man hat herausgefunden, dass musikalische Prägungen der Kindheit
das ganze Leben hin fortwirken.
nmz: Man stößt also mit diesem neuen Festival
in eine „Marktlücke“, man reagiert auf ein Defizit?
Suttner: Ich glaube das schon. Ich will aus eigener Erfahrung
berichten: Wir haben jetzt im via-nova-chor „Wachet auf“
von Bernd Alois Zimmermann gesungen. Es ist gut geworden, das darf
ich ruhig sagen. Es ist ein Ergebnis einer schrittweisen Hinführung
von jungen Leuten, die Singen nicht professionell betreiben. Dadurch,
dass sie immer daran geblieben sind, haben sie erfahren, dass es
einen musikalischen Horizont gibt, der weit über das bisher
Gelernte und Gekannte hinaus geht.
Das ist eine Erfahrung, die die „Tage der Neuen Chormusik“
in großem Umfang vermitteln wollen. Ich erhoffe mir, dass
hier ein Diskussionsforum entsteht, das kompetent über Sinnvolles
und vielleicht weniger Sinnvolles in neuer Chorarbeit debattiert.
Es muss doch möglich sein, in der Vokalmusik etwas zu tun,
was in der Instrumentalmusik – siehe etwa Darmstadt –
seit langem möglich ist.
nmz: Wobei hier wohl auch auf das andere Verhältnis
von Laienbasis und professionellem Tun Rücksicht genommen werden
muss.
Suttner: Das ist in der Tat wichtig, denn die Instrumentalmusik
kann über eine viel breitere Decke von professionellen Musikern
verfügen, als dies in der Chormusik der Fall ist. Deswegen
sollen die „Tage der Neuen Chormusik“ im Wesentlichen
in die Breite arbeiten und nicht nur über die Spitze debattieren.
nmz: Das ist aber auch eine Chance für die Neue Musik.
Suttner: Auf jeden Fall. Mich bestürzt es schon etwas
wenn ich spüre, dass es Komponisten gibt, die sich um die Wirkung,
um die Akzeptanz ihrer Musik eigentlich nur wenig kümmern.
Freilich soll das Publikum dem Komponisten keine Vorschriften machen.
Aber wenn der Komponist die Wirkung seiner Musik auf den Hörer
gar nicht im Blickfeld hat, wenn er nur in abgehobener Sphäre
mit seinen Kollegen über die Musik diskutiert, dann scheint
mir das nicht richtig. Hier kommt wieder die Pyramide ins Spiel.
Auch das hochselektive Tun sollte von der Basis gestützt sein.
Wenn unser Konzertpublikum zur Zeit immer älter wird, dann
ist das ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt.
nmz: Nun ruht diese, sagen wir mal, elitäre Haltung
von Komponisten auf der Basis eines Subjektivismus, bei dem man
meist wenig Abstriche machen will. Sehen Sie vielleicht doch Bereitschaft
von Komponisten zum Entgegenkommen?
Suttner: Oh ja! Viele junge Komponisten sehen ja das Dilemma.
Vielleicht habe ich das eben etwas überzeichnet. Aber die Komponisten
entwickeln sich in diese Richtung. Es gibt so etwas wie Eintrittskarten:
Wenn du nicht so komponierst, hast du keinen Zutritt zur hohen Welt
des Komponierens. Aber man kann durchaus ideenreiche, sensible und
technisch versierte Leute finden, die einen anderen Weg einschlagen
wollen. Vielleicht kann man auch einmal Brücken zur Pop-Rock-Szene
schlagen, ich will das gar nicht ausschließen.
nmz: Wie ist nun die Konzeption des ersten Festivals strukturiert?
Suttner: Es gibt ein Eröffnungkonzert mit dem SWR-Vokalensemble
mit der Kombination Rihm und Gesualdo und nach der Pause die Bußpsalmen
von Schnittke – ein Programm, das wohl nur ein Profichor bewältigen
kann. Dann gibt es ein Referat von Clytus Gottwald, der wohl am
entschiedensten die zeitgenössische Chormusik in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunders mitgeprägt hat. Das Thema:
„Wurzeln, Stationen und Ausblicke“. Dann gibt es einen
Interpretations- und Dirigierkurs von Manfred Schreier, auch ein
Vertreter der extremen Avantgarde. In seinem Ankündigungsschreiben
hob er hervor, dass er in Bezug auf vokales Denken derzeit eine
große Renaissance kommen sieht (eine vielleicht etwas optimistische,
aber durchaus berechtigte Sicht, denn die Möglichkeiten der
Stimme sind längst nicht ausgelotet).
Dann gibt es das AMJ-Projekt „Komponistinnen/Komponisten
schreiben für Kinder- und Jugendchöre“. Es zielt
auf ganz neue schöpferische Möglichkeiten hin. Dann gibt
es Reading-Sessions, in denen sich Chorleiter, aufgeteilt in vier
Bereiche, über neue Chorliteratur informieren können.
Dann gibt es ein Projekt mit Prof. Wippermann „Notationsformen
in der zeitgenössischen Chormusik“ mit Anregungen zur
selbständigen Arbeit mit neuer Chormusik. Dann gibt es eine
Notenausstellung und womöglich Filme über außereuropäische
Gesangstraditionen.
Eine Reihe von Konzerten mit quasi semiprofessionellen Chören
wird dann schließlich abgeschlossen durch das Uraufführungskonzert
am Sonntag mit Diskussion und Wiederholung des in Auftrag gegebenen
Stücks. Diesmal ist es der schwedische Komponist Thomas Jennefelt,
weil er vielleicht den Brückenschlag vom Laien zum Profi in
seinen Arbeiten besonders überzeugend entwickelt. Hier sollen
aber, falls das zweijährig konzipierte Festival weitergeführt
werden kann, jeweils andere technische und ästhetische Akzente
gesetzt werden.
nmz: Was würden Sie sich im Idealfall für Wirkungen
von den „Tagen der Neuen Chormusik“ erhoffen?
Suttner: Dass es eine Veranstaltung wird, die über
die Grenzen der gegenwärtigen Chorverbände hinaus weist.
Das ist das Chorpolitische. Und dann natürlich das gegenseitige
Kennenlernen-Wollen. Dass die Profis ihren existenziellen Zusammenhang
zur Basis erkennen und dass die Basis die Notwendigkeit von technisch
höchstem Anspruch anerkennen, dass sie dafür die Augen
öffnen. Und schließlich, dass die Komponisten sich bewusst
machen, dass sie ihre Stücke für ganz bestimmte Möglichkeiten
schreiben müssen, was keinesfalls mit einer Zurücknahme
des ästhetischen Anspruchs einher gehen muss.