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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 55
56. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Auf der Suche nach der schönen Dissonanz
Der Komponist Jürg Baur · Ein Porträt von Egbert
Hiller
„
Ich war nie Avantgardist“, ließ sich Jürg Baur
einst von dem Musikkritiker Hanspeter Krellmann zitieren – ein
Ausspruch, der ihm bis heute nachhängt und der einer unvoreingenommenen
Auseinandersetzung mit seinen Werken oftmals hinderlich war. Dabei
trat der 1918 in Düsseldorf geborene Komponist – seit
seinen Anfängen in den 1930er-Jahren mit Bartók und
Hindemith als frühen Anknüpfungspunkten – stets
in Dialog mit den jeweils aktuellen Strömungen der zeitgenössischen
Musik. Elemente der Zwölftontechnik, serielle Strukturen und
Aleatorik berücksichtigt(e) er jedoch erst nach kritischer
Hinterfragung und geistiger Durchdringung.
Zentrales Merkmal seiner künstlerischen Entwicklung ist die
individuelle Entfaltung jenseits einer bestimmten Schule; und dies
spiegelt sich im Spannungsverhältnis zwischen dem Insistieren
auf das subjektive Ausdrucksbedürfnis einerseits und komplexer
Organisation des Tonsatzes mit stark kontrapunktisch geprägter
Durchbildung andererseits wider. Markant offenbarte sich diese
Grundkonstellation bereits in dem 1960 in Rom entstandenen „Concerto
romano“ für Oboe und Orchester. Und der latente „italienische“ Einfluss
mochte sich in von klangfarblicher Dichte und Intensität gespeisten
sinnlich-schwelgerischen Sphären niederschlagen. Diese finden
ihr Ventil zumal im Solopart, dessen – trotz Einbindung in
punktuelle und serielle Organisationsformen – virtuos-musikantischer
Einschlag aufreizenden Charme versprüht. Baur selbst beschreibt
den Kopfsatz („Mosaik“) als „ein straff geordnetes
System verschiedener Kolorite, Motive und Linien, den Ornamenten
der römischen Kosmaten-Fußböden vergleichbar.“ Die
Oboe nimmt in diesem Klangkosmos die Rolle eines Fantasiewesens
ein, das auf den Leuchtfeldern des imaginären „Mosaiks“ zum
bizarren Tanz auftritt.
Paradigmatisch zeigt sich im „Concerto romano“, dass
satztechnische Prozesse für Baur niemals Selbstzweck, sondern
dem persönlichen Tonfall untergeordnet sind. Im Gegenzug bannen
und objektivieren sie jedoch den emotionalen Gehalt in einem konstruktiven
Gerüst: „Es geht mir eigentlich immer wieder darum,
die menschlichen Bezüge nicht zu verlieren. Für mich
ist es oberstes Gesetz, nur das zu schreiben, was man hört,
also nicht den strikten Ablauf von Reihen oder Strukturen einzuhalten,
sondern diese so zu verändern, dass sie den Hörer noch
erreichen. Auch im dissonanten Umfeld strebe ich nach Schönheit.
Das ist eine grundsätzliche Entscheidung: Ich bin auf der
Suche nach der schönen Dissonanz.“
Gleichwohl begreift Baur Komponieren uneingeschränkt als „intellektuell
anspruchsvollen Vorgang auf der Grundlage handwerklicher Fähigkeiten.“ Fast
schon anekdotischen Charakter trägt da eine Begebenheit, die
ihm in seiner Eigenschaft als Prüfer in der Kommission zum
Komponistendiplom an der Kölner Musikhochschule widerfuhr: „Da
war jemand mit dem Tonband von der Hochschule zum Melatenfriedhof
und zurück gegangen und legte nun den ‚Live-Mitschnitt‘ dieses
Spaziergangs als Komposition vor“, so Baur, der für
derlei „Experimente“ kein Verständnis aufbrachte.
Wie immer man zu seiner – als „altmeisterlich“ apostrophierten – Einschätzung
stehen mag, als Lehrer (1965 wurde er Direktor des Robert-Schumann-Konservatoriums
in Düsseldorf, von 1971–90 leitete er an der Kölner
Musikhochschule eine Kompositionsklasse) war er sehr geschätzt.
Nicht nur, dass er von seinen zahlreichen Schülern, zu denen
etwa Thomas Blomenkamp und Martin Herchenröder zählen,
ein fundamentales Studium der Musikgeschichte einforderte, er leitete
sie vor allem an, unabhängig von ästhetischen Diktaten
eigene Wege einzuschlagen. Darin sieht er sich ganz in der Nachfolge
seines eigenen Lehrers Philipp Jarnach (1892–1982), der ihn
anhielt, mit künstlerischer Disziplin „überkommene
Grenzen organisch auszudehnen“.
So wurde die Auseinandersetzung mit der Tradition für Baurs
Schaffen kennzeichnend. Während für das seriell organisierte „Quintetto
sereno“ von 1958 die „Begegnung mit Anton Webern“ im
Vordergrund stand, war für das Streichtrio „Kontraste“ von
1964 die tradierte viersätzige Form der Ausgangspunkt. Baur
füllte sie mit neuem Leben, indem er die Satzcharaktere zuspitzte
und in eigenwillige, auch an spirituelle Dimensionen gemahnende
Klangbilder umdeutete.
Seit den 1970er-Jahren macht er seine klingenden Reflexionen über
die Musikgeschichte verstärkt an einzelnen Komponisten fest,
etwa in der Orchestersuite „Musik mit Robert Schumann“ (1972),
den „Sinfonischen Metamorphosen über Gesualdo“ (1981)
oder den „Frammenti-Erinnerungen an Franz Schubert“ für
Orchester (1995/96). Mit diesen Auftragswerken errang Baur seine
größten Erfolge; nichtsdestotrotz handelt es sich uneingeschränkt
um „Bekenntnismusik“, wie er anhand der „Sinfonischen
Metamorphosen“ darlegt: „Bekenntnis zu Gesualdo, ein
Mensch von übertriebener Sensibilität und wilder ekstatischer
Heftigkeit. Seine Kunst und sein Leben standen unter dem Gesetz
der inneren Zerrissenheit, zwischen Auflehnung und Resignation,
zwischen Zartheit und Leidenschaft. Davon will meine Musik etwas
aussagen.“
Sind die Aktivitäten von Jürg Baur, der im November 2008
sein 90. Lebensjahr vollenden wird, in letzter Zeit zumal auf Überarbeitung älterer
Kompositionen gerichtet, so gelang es ihm vor kurzem dennoch, eine
schmerzhafte Lücke in seinem umfangreichen Oeuvre zu schließen. „Baurs
Schaffen umfasst so gut wie alle Gattungen außer der Oper“,
heißt es in der neuen MGG über ihn – eine Aussage,
die mit der im November 2005 erfolgten Uraufführung von „Der
Roman mit dem Kontrabass“ nach Anton Tschechow überholt
ist. Und Baur ist sich auch in dieser Oper treu geblieben. Mit
stilistischer Vielfalt bei gleichzeitiger strenger formaler Bindung
sowie einer Fülle von Zitaten und Anspielungen erfüllt „Der
Roman mit dem Kontrabass“ zudem die Ansprüche eines „Alterswerks“,
das „auf der Suche nach der schönen Dissonanz“ die
kompositorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts Revue passieren
lässt.