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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 41
56. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Europäischer Barockkomponist
Bericht zum Buxtehude-Festival in Lübeck
„Der abscheuliche Lerm der muthwilligen Jugend, und das
unbändige
Laufen, rennen und toben hinter dem Chor, will einem fast alle
Anmuth, die man von der Music haben könnte, benehmen: zu geschweigen
der Sünden und Gottlosigkeiten die unter der Gunst der Dunckelheit
und des schwachen Lichts ausgeübet werden.“ Ja, die
zivilen Manieren mancher neugierigen Besucher waren wohl nicht
ganz angemessen, als Dieterich Buxtehude seine Abendmusiken in
der gotischen St. Marien Kirche zu Lübeck veranstaltete.
Erstmals 1678 und zeitgleich mit der Eröffnung der Oper in
Hamburg. Ob zufällig oder nicht: „Diese Abend-Musicken,
welche jährlich (...) gehalten werden, sind nicht allein theatralisch,
sondern sie sind ein vollkommenes Drama per musica und es fehlet
nichts weiter, als dass die Sänger agiren, so wäre es
eine geistliche Opera“, berichtete ein Zeitgenosse. Deshalb
war „die älteste Konzertreihe der Welt“ im (nicht
allzu) pietistischen Lübeck eine Sensation, durch deren attraktive
Wirkung Dieterich Buxtehude zum europäisch beachteten Barockkomponisten
avancierte.
Beim Festival zum 300. Todestag von Dieterich Buxtehude (1637–1707)
drängte sich zwar das Publikum in den Dom, um die einzig erhaltene
und verbürgte Abendmusik „Wacht! Euch zum Streit – Das
jüngste Gericht“ zu erleben, doch das Interesse daran
blieb sündenfrei. Zumal „Sünden und Tugenden“ das
Thema dieses Oratoriums waren. Der Altarraum wurde zur Bühne
für oft drastische Dialoge der hervorragenden Sopranistinnen
Stephanie Petit-Laurent (Die gute Seele, Geitz), Monika Mauch (Die
böse Seele, Hoffahrt) und Gela Birckenstaedt (Leichtfertigkeit),
deren Partien im stets farbigen Kontrast zum belehrenden Bass Wolf
Matthias Friedrich (Die göttliche Stimme) sowie zum Chor und
zu den instrumentalen Intermezzi arrangiert waren. Die superb inszenierte
Aufführung von Musica Fiata und La Capella Ducale breitete
durch die optimale Regie von Roland Wilson ein Ultimum sinnlichen
Klangs aus, wovon das Publikum vollkommen vereinnahmt wurde. Solch
hohes Niveau hatten auch die anderen Konzerte, etwa mit dem Cantus
Cölln unter der Leitung von Konrad Junghänel mit Kantaten
aus dem Fundus „Buxtehude und seine Zeit“, nämlich
seinen Kollegen Nikolaus Bruhns, Matthias Weckmann und Johann Rosenmüller. „Europäische
Varianten im Italienischen Stil“ präsentierte der Nestor
historischer Aufführungspraxis Gustav Leonhardt mit seinem
Ensemble bei einem Kammermusik-Recital. Eine echte Rarität
hatten die Lübecker Philharmoniker zu ihrem 7. Sinfoniekonzert
parat: Das Arrangement der „Chaconne e-moll“ für
großes Orchester von Carlos Chaves, wobei mexikanisches Kolorit
der Buxtehude-Komposition besonderes Flair gab. Ton Koopman, Präsident
der Internationalen Dieterich-Buxtehude-Gesellschaft, brachte mit
dem Amsterdam Baroque Orchestra & Choir bei zwei Kantatenzyklen
die melodische Individualität des Lübecker Komponisten
in Verbindung mit einigen Werken seines Bewunderers Johann Sebastian
Bach. Die kontemplative Apotheose „Membra Jesu Nostri“ zeigte
in sieben Kantaten eine völlig andere Facette: ruhig atmende
Kantilenen, die vom NDR-Chor, Hille Perl (Viola da Gamba) und dem
Ensemble Sirius Viols unter der Leitung von Robin Gritton wie eine
Andacht gestaltet wurden.
Noch eine kleine Sensation, denn der historische Kontext und
die Biografie Dieterich Buxtehudes konnten mit Augen und Ohren
in allen
Aspekten betrachtet werden: Neben Originalexponaten wie Abschriften
von Kompositionen und Instrumenten sind Arbeits- und Musikzimmer
als eigene Räume rekonstruiert, Genrebilder und Hörstationen
ermöglichen unmittelbare Einfühlungen ins Lübecker
Barockleben. Das exzellent organisierte Festival zum 300. Todestag
von Dieterich Buxtehude hat beim ersten Part im Mai 2007 (Fortsetzung
im September) bisher alle Erwartungen übertroffen.