[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 37
56. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Nichts
als Musik
Das finnische Festival „Musiikin aika“
Irgendwas stimmt da nicht. Veli Kujala vom Trio Pipoka hat an
seinem Knopfakkordeon ein neues Register eingestellt und setzt
zu einem Solo über Piazzollas „Vuelvo als sur“ an,
aber das klingt merkwürdig schräg. Die Tonhöhe ist
scharf neben der Spur. Kujala schaut leicht perplex auf sein Spielgerät
und fummelt noch ein wenig daran herum. Ohne Erfolg …
Es ist der letzte Abend, „Jatkot“, eine „Party“ ist
angekündigt, aber wie schon an den fünf Tagen zuvor im
finnischen Viitasaari erinnert nichts an einen proseccogeschwängerten
Event. Wir haben nach dem letzten Konzert in der Turnhalle den
Parkplatz des Schulzentrums überquert und sitzen nun in einem
auch als Kino genutzten Theaterraum. Einzig das Programm macht
mit ein wenig Tango und Jazz zarte Zugeständnisse an einen
bunten Abend, an dem freilich eine Uraufführung nicht fehlen
darf: Virpi Räisänen-Midth singt zwei zerbrechliche Lieder
Minna Leinonens, am Akkordeon begleitet von Timo Kinnunen.
Finnische
Mitternacht auf dem kahlen Berge: Petri Keskitalo bläst
ein Solo. Die Seilakrobatin hat sich vorerst zurückgezogen.
Foto: Juan Martin Koch
Auf ihn geht es zurück, dass „Musiikin aika – Time
of Music“ vor 25 Jahren ausgerechnet in diesem rund 100 Kilometer
nördlich der Universitätsstadt Jyväskylä gelegenen
4.500-Seelen-Ort landete, aus dem er stammt. Als zusammen mit dem
Komponisten Jukka Tiensuu die Idee entstand, dem traditionellen
Ausbildungsbetrieb an der Sibelius Akademie in Helsinki Sommerkurse
für Komponisten und Instrumentalisten entgegenzusetzen, plädierte
Kinnunen für den diskreten Charme der Provinz. Man wollte
dem damaligen Monopolisten in Sachen Kompositionsunterricht auch
geografisch den Rücken kehren. Und konnte sich gleichzeitig
sicher sein, dass in dem architektonisch und atmosphärisch
gleichermaßen trostlosen Städtchen nichts von der Konzentration
aufs Neue ablenken würde als der See und der Wald. „This
place has nothing“ – diese lapidare Feststellung Jukka
Tiensuus markiert zusammen mit der in vielen Gesprächen wiederkehrenden
Verortung Viitasaaris als „in the middle of nowhere“ die
Chance, die man im Rückzug ins Landesinnere sah.
Tiensuu, der für das erst allmählich, im Zuge steigender
Zuschüsse, zum Festival mit Konzertschwerpunkt avancierte
Avantgarde-Treffen 17 Jahre lang verantwortlich war, ist nach langer
Abstinenz zurückgekehrt nach Viitasaari. Die Voraussetzungslosigkeit
des Ortes und die Offenheit des kleinen, aber treuen Publikums
haben, so glaubt er, das Festival zu dem gemacht, was es nun ist:
zum wichtigsten Treffpunkt für zeitgenössische Musik
in Finnland neben dem Musica-Nova-Festival in Helsinki. Letzteres
hat allerdings – so nicht nur Tiensuus Einschätzung – in
diesem Jahr mit einem rein finnischen Programm einen Rückschritt
in jene national gefärbte Selbstzufriedenheit gemacht, von
der man sich in Viitasaari vor 25 Jahren bewusst befreite: John
Cage (der schon 1983 kam und dort seinen einzigen Kompositionskurs
gab), Vinko Globokar (der zweimal eingeladen wurde), Xenakis, Kagel,
Crumb, Ferneyhough, Lachenmann … was immer sich in der Neue-Musik-Szene
tat, hier stieß es auf Widerhall, ganz unmittelbar durch
den direkten Kontakt und indem bis dahin wenig gespielte Komponisten
ihren Weg ins Repertoire eines parallel zur Entwicklung von „Musikiin
aika“ enorm aufstrebenden finnischen Konzertlebens fanden.
Der in Frankreich lebende Grieche Georges Aperghis war es nun,
der in diesem Jahr mit seinem instrumentalen Theater viele Programme
prägte. Im Eröffnungskonzert waren seine „Sept
crimes de l’amour“ der Höhepunkt einer etwas diffusen,
von verschiedenen Ensembles bestrittenen Zusammenstellung; das „Requiem
furtif“ brachte, passenderweise in der Friedhofskapelle,
den Geiger John Storgards und die phänomenale Percussionistin
Françoise Rivalland zusammen. In diesem atmosphärisch
gelungensten Konzert war sie es auch, die am Cimbalom die zerbrechlich
klaren Miniaturen György Kurtágs zum Vibrieren brachte.
Die Intensität, mit der sie Aperghis’ vokal und schauspielerisch
beängstigend dramatisiertes Zarb-Solo „Le corps à corps“ zu
einer körperlichen Grenzerfahrung machte, überstrahlte
schließlich ein weiteres Konzert, bei dem andere Werke, auch
solche von Aperghis selbst, verblassen mussten. In „Alter
ego“, einem Dialog des Spielers mit seinem Saxophon und den
wunderbaren Klavierminiaturen „Les secrets élementaires“ waren
schließlich zwei eminente Begabungen des finnischen Musikernachwuchses
zu erleben: Joonatan Rautiola und Marko Hilpo.
Weitere Höhepunkte brachten die Auftritte des holländischen
Ensembles Insomnio und des französischen Diotima Quartetts.
Die groß besetzten „Schlaflosen“ überraschten
mit erstaunlich konzertanten Werken Gabriel Erkorekas („Jukal“,
Nelleke ter Berg an der Gitarre) und Martijn Paddings („Eight
Metal Strings“, aus dem Vollen perkussiven Spielwitzes schöpfte
hier Diego Espinosa). Zudem lieferten sie eine umjubelte Wiederaufführung
von Jukka Tiensuus „nemo“ (1997): eigenständige,
raumgreifende Musik von einer gänzlich unnaiven und doch unmittelbar
berührenden Naturhaftigkeit. Das Quatuor Diotima hatte neben
Juha Koskinens erstem Streichquartett, das sich mutig tonale Flächen
erobert, die Auftragskomposition des Festivals erarbeitet: Sampo
Haapamäkis „Connection“. Der Mahnkopf-Schüler
und Gaudeamus-Preisträger hat ein rhythmisch prägnantes,
vorwärts drängendes Stück vorgelegt, das seine Vierteltonstruktur
nicht gelehrt vor sich herträgt, sondern zur Detailschärfung
einsetzt. Die Finesse und Präzision, mit der die vier Streicher
dann Lachenmanns „Grido“ zelebrierten, offenbarte die
paradoxe Schönheit dieses kompromisslosen Meisterwerks.
Eine Konstante in Viitasaari ist die Suche nach Verbindungslinien
zu anderen Kreativbereichen. In diesem Jahr hatte Festivalleiter
Tapio Tuomela Artisten des Circo Aereo mit einigen der Musiker
zusammengebracht. Und so pilgerte in der immer noch dämmernden
Mitternachtssonne die eingeschworene Zuhörerschar zu einer „Nacht
auf dem kahlen Berge“ im Wald und bewunderte die akrobatischen
Einlagen, mit denen die Werke mal dezent ins Seil sich verheddernd,
mal virtuos Holzblöcke schichtend kommentiert wurden. Echte
Konvergenzen schienen sich aber eher zufällig zu ergeben,
oft drängte der starke optische Eindruck die Musik in den
Hintergrund.
Das konnte beim Auftritt der Stuttgarter „Neuen Vokalsolisten“ kaum
passieren. Aperghis hatte die Verknüpfung mit den Akrobaten
für seine Werke abgelehnt und so entfalteten sich zwei Ausschnitte
aus der Wölfli-Kantate mit ungeteilter Konzentration. Aber
auch Charlotte Seithers „seeds of noises“ wurden von
den sechs phänomenalen Stimmkünstlern so fesselnd dargeboten,
dass die ebenso aberwitzigen wie poetischen Handstandverrenkungen
nicht als ablenkendes Beiwerk, sondern als Chiffren für die
zunehmende Überlagerung des Geräuschhaften mit Gesang
funktionierten.
Zurück auf der Abschlussparty horchen wir weiter auf Veli
Kujala: Sein Akkordeon bläst nach wie vor ziemlich verquere
Töne in den Raum, aber mittlerweile ist klar, dass er mit
dem eigens angefertigten Viertelton-Register (Sampo Haapamäki
schreibt an einem Konzert dafür) nur sein Spiel mit den Zuhörern
treibt. Aberwitzig steigert sich sein Solo zu finnischem Avantgarde-Tango
und kehrt dann heim in vertrautes Terrain. „Vuelvo al sur“ – auch
den Berichterstatter zieht es dorthin zurück, wo von Finnland
aus betrachtet Süden ist. Alles eine Frage der Perspektive.
Juan Martin Koch
Der Autor besuchte das Festival „Musiikin aika“ in
Viitasaari auf Einladung des Finnischen Außenministeriums.