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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 41
56. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Triumph für die Neue Musik
Die 62. Sommerlichen Musiktage in Hitzacker
Noch lange wird man von diesem Festival begeistert reden, das
vom 28. Juli bis 5. August so viele Zuhörer wie noch nie zuvor
ins Wendland zog. Und das, weil der künstlerische Leiter,
Markus Fein, einen Grundsatz verfolgte, von dem man Popularität
am wenigsten erwartet: „Ich finde,“ meinte er, „dass
die Neue Musik bei einem Festival, das in der Gegenwart stattfindet,
dabei sein muss. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, ein Musikfestival
zu konzipieren, wo man die Neue Musik ausschließt.“ Und
das, obwohl dieses älteste Kammermusikfestival in Deutschland
von seinen Ursprüngen her eines der rein klassischen Musik
ist.
Ein Zauberwort des Kurators hieß in diesem Jahr „Begegnung“:
Begegnungen von klassischer und zeitgenössischer Musik, von
Literatur, Musik und Film, von Musik, Landschaft und Leuten, von
Komponisten, Musikern und Hörern. Markus Fein war es im nunmehr
sechsten Jahr seiner Amtszeit gelungen, in dem malerischen Backsteinstädtchen
an der Elbe im Wendland für eine Woche einen wahrhaft künstlerischen
Erlebnisraum zu schaffen; einen Erlebnisraum für alle Sinne.
Dieser umfasste ebenso Kompositionen von George Crumb, Schubert
und Brahms im Eröffnungskonzert „An den Mond“ wie
einen Festival-Walk auf dem Deich zum alten Marschhufendorf Konau
mit Tango-Unterbechungen durch Quadro nuevo, die sechs Cello-Suiten
von Bach, verteilt auf drei Dorfkirchen oder nachmittägliche
Kuchenbuffets, etwa auf Einladung des Grafen von Bernsdorf in seinem
Schlossgarten, und – für viele wohl der Höhepunkt – Begegnungen
mit zwei der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit: mit Helmut
Lachenmann und Wolfgang Rihm. Hunderte kamen, um deren Musik kennenzulernen.
Ein zweiter Grundsatz des künstlerischen Leiters sorgte für
einen weiteren Höhepunkt gleich zu Beginn: „Es gibt
ganz klar den Wunsch von mir, das Konzertritual aufzubrechen. Natürlich,
wenn das so verfestigt ist, dann öffnet es auch nicht das
Hören. Deswegen gab es diese Musik zum Sonnenaufgang von Daniel
Ott, wo wir den Konzertrahmen wirklich ganz, ganz weit hinter uns
gelassen haben, in die Landschaft hinaus gegangen sind.“
Der Konzertrahmen für die Uraufführung von „landschaft
29/7“ des Schweizer Komponisten Daniel Ott und des jungen
Berliner Theaterregisseurs Enrico Stolzenburg waren das Elbtal
und der Weinberg von Hitzacker, zwischen 4.30 und 6.00 Uhr in der
Frühe. Mehr als 200 Leute waren gekommen – und erlebten
eine seltene Stunde des Glücks: das Wunder eines Sonnenaufgangs
in den Elbtalauen, einzigartig intensiviert durch so transparent
wie plastisch in diese Landschaft eingesetzte Klangstrukturen;
Ausführende waren fünf Blasorchester und Posaunenchöre
der Umgebung sowie Studenten der Hamburger Musikhochschule. Der
zweite Teil auf dem Weinberg öffnete den Blick ins Erhabene
und steigerte sich gegen Ende zu einer übermütigen Impro-Session.
Das zweite Zauberwort heißt Hör-Akademie; in diesem
Jahr als öffentliche Probensituationen der Komponisten mit
durchweg vorzüglichen Interpreten. Nochmal Markus Fein: „Die
Idee dahinter ist nicht so sehr, Wissen zu vermitteln. Es geht
um eine lebendige Auseinandersetzung mit Musik. Es geht darum,
möglichst nah, mit der Lupe, an die Musik heranzugehen und
die Hörer wirklich selbst in die jeweilige Klangwelt zu involvieren.
Deshalb ist es mir immer wichtig, Werkstattformate zu finden, möglichst
lebendige Formen der Musikvermittlung und kein referatsmäßiges
Monologisieren.“ Als genialer Schachzug erwies es sich, dabei
sowohl in den Hör-Akademien als auch in den Konzerten gerade
Helmut Lachenmann auf Wolfgang Rihm treffen zu lassen und umgekehrt.
Erlebte das Publikum dadurch doch – ohne Worte – zwei
der wesentlichen Richtungen zeitgenössischer Musik: einen
Neubeginn als Neusetzung von Material und Ästhetik einerseits
und die innovative Fortschreibung von Traditionen andererseits.
In den beiden Konzerten resultierten daraus spannendste Hörerlebnisse.
Etwa durch die Kombination von Rihms „Chiffre IV“ für
Bassklarinette, Cello und Klavier und Lachenmanns 3. Streichquartett „Grido“,
letzteres in einer atemberaubenden Interpretation durch das Streichquartett
des Hamburger Ensembles Resonanz: Eine hellwache Neuformulierung
von Charakteren der Beharrlichkeit, Kraft und Behutsamkeit, angesiedelt
in den nicht zu bewältigenden Unruhen des Daseins.
Kaum fassbar, dass die Festivaldramaturgie dazu noch eine Steigerung
bereithielt: nämlich im Orchester-Konzert zwei Tage später.
Gegensätzlicher als mit Lachenmanns „Mouvement (– vor
der Erstarrung)“ und Rihms „Jagden und Formen“ hätte
eine musikalische Begegnung kaum sein können: Höchst
konzentrierte Energiezustände von differenziertester Farbigkeit
trafen auf ein polyphon üppiges, sich orgiastisch steigerndes
Dahinjagen. Mit dem Ensemble Modern unter Leitung von Sian Edwards
wurde dieses Konzert zu einer Sternstunde Neuer Musik – in
Hitzacker.
Auch die beiden Hör-Akademien im Jagdschloss Göhrde beziehungsweise
im Konzertsaal „Verdo“ in Hitzacker wurden zu einem
spannenden Parcours durch die Klangwelt dieser beiden Komponisten.
Eintauchend in die Details und Differenzen von Geräuschklängen – demonstriert
am Beispiel des legendären Cello-Solostücks „Pression“ von
1969 durch Michael M. Kaspar – wurde die Lachenmann’sche
Kompositionsästhetik auf Anhieb klar: Wann etwa ein Geräusch
hässlich ist und wann schön. Ähnlich war das bei
Wolfgang Rihm: Das Hölderlin-Lied „Abbitte“ etwa
ist eben doch kein hochromantisches Klavierlied, wie es die erste
Interpretation weißmachen wollte. Schon kleine Korrekturen
durch den Komponisten hinsichtlich einer leichteren und behutsameren
Interpretation modellierten den typisch Rihm’schen Ausdruck.
So wurde dann auch, im nur scheinbar Vertrauten, das Hören
zum Abenteuer.