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Ausgabe 2007/09
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nmz 2007/09 | Seite 4-5
56. Jahrgang | September
Magazin

Klangwelten für wache Ohren: versponnen, versonnen

Die Salzburger Festspiele entdecken den „Kontinent Scelsi“ und den „Sauser aus Italien“

Was ist ein Festspiel? Darüber wird seit Ewigkeiten diskutiert. Ist es lediglich eine Ansammlung künstlerischer Darbietungen nach der Devise: „Wer vieles bringt, wird vielen etwas bringen“. Oder wird ein Festspiel erst zu einem solchen, wenn eine gehobene, ja: höhere Idee dem Ganzen den übergreifenden Sinn verleiht? Als die Salzburger Festspiele nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurden, wollten die Gründungsväter Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt und Richard Strauss eine Institution schaffen, in der nach den Verwüstungen des Krieges und dem Zusammenbruch alter Gesellschaftsordnungen der Geist des Abendlandes bewahrt werden konnte. Manchmal versucht der eine oder andere Salzburger Festspielintendant etwas von diesem Geist einzufangen – Gérard Mortiers Europäisierung der Festspiele ist noch in zwiespältiger Erinnerung, zwiespältig, weil sich der so genannte Geist, das Geistige, nicht so leicht einfangen lässt.

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Schlagzeug-Magier: Einer der sechs Percussionisten bei der Aufführung von Griseys „Le Noir de l‘Etoile“ in der Kollegienkirche. Foto: Charlotte Oswald

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Bild vergrößernSchlagzeug-Magier: Einer der sechs Percussionisten bei der Aufführung von Griseys „Le Noir de l‘Etoile“ in der Kollegienkirche. Foto: Charlotte Oswald

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Der neue Salzburger Intendant, Jürgen Flimm, gibt sich in dieser Hinsicht bescheidener: Er denkt sich für eine Festspielsaison einen Obertitel aus, in diesem Jahr, seinem ersten, lautete dieser: „Nachtseite der Vernunft“. Nach der „Aufklärung“ im vergangenen Sommer, mit den 22 Mozart-Opern anlässlich des Gedenkjahres des Komponisten, wollte man zeigen, dass das Licht der Vernunft immer auch eine dunkle Gegenseite beschwört. So waren vor allem die Operntitel zu verstehen, allen voran der walddämonische „Freischütz“, Tschaikowskys duellsüchtiger „Eugen Onegin“ oder Haydns wilde Zauberin „Armida“. Nun nützt das beste Konzept nicht viel, wenn deren Belegstücke die Ankündigung nicht einlösen. Oper bei den Salzburger Festspielen: unverändert ein Problem, sowohl szenisch wie musikalisch. Darüber muss an anderer Stelle irgendwann einmal gründlich nachgedacht werden. Wenn die Festspiele gleichwohl einen stärkeren Eindruck hinterließen, dann ist das vor allem dem Konzertprogramm zu verdanken, dass jetzt von dem Pianisten Markus Hinterhäuser gestaltet wird. Hinterhäuser hat schon zur Mortier-Zeit das inzwischen legendäre „Zeitfluss“-Festival für die Salzburger Festspiele organisiert. Eine der Absichten von „Zeitfluss“ war, einem weitgehend uninformierten Publikum wichtige Werke der Moderne zu vermitteln – die Aufführung von Nonos „Prometeo“ in der Kollegienkirche geriet zu einem faszinierenden Erlebnis, auch und gerade für Besucher, die sonst vor allem zu den Stars im Großen Festspielhaus drängen.

Im Prinzip folgt Hinterhäuser den damaligen Erfahrungen. Er möchte im Gesamtangebot gleichsam „Inseln“ anlegen, die der additiven Unverbindlichkeit eines kunterbunten Event-Programms entgegenwirken. Natürlich benötigt auch Hinterhäuser die so genannten „Stars“, die das Große Festspielhaus füllen, damit der Konzertsektor den im Etat vorgeschriebenen Überschuss erzielt – einige Namen: Pollini, Brendel, Lang Lang. Aber dass sich daneben ein sinnvolles Konzertkonzept entwickeln lässt, dafür gab das erste Hinterhäuser-Programm einen schlagenden Beleg. Im Zentrum stand ein umfangreicher Komplex mit Werken des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, über den im Folgenden berichtet wird.

Eine zweite „Insel“ war Robert Schumann reserviert: Die fünfteiligen „Schumann-Szenen“ eröffneten unerwartete Perspektiven auf den Komponisten und gerieten zu einem riesigen Erfolg. Bemerkenswert auch die entschiedene Rückkehr Beethovens ins Festspielprogramm. Und, auch politisch, eine Großtat: die Residenz des von Daniel Barenboim gegründeten „West Eastern Divan Orchestra“. Die jungen Musiker aus verschiedenen Nationen des Nahen Ostens stellten sich nicht nur mit einem Konzert eindrucksvoll vor, sie fanden auch Gelegenheit, an mehreren Tagen mit renommierten Künstlern praktische Erfahrungen zu sammeln. Pierre Boulez ist für solche Unterweisungen immer ein wertvoller Helfer. Auch hierüber soll noch berichtet werden.
Der Kontinent

Eigenartiges passierte diesen Sommer in Salzburg. Eine kleidungstechnisch sehr bunte Mischung versammelte sich acht Mal, um neuen, unerhörten Tönen aus der Feder des Italieners Giacinto Scelsi (und seinen Nachfolgern) zu lauschen. Zu fortgeschrittener Stunde (20.30 oder 22 Uhr), wenn die knatternden Luxuskarossen der Sponsoren ihre Gäste in die Festspielhäuser gespuckt hatten, dienten die Kollegienkirche und die vergangenes Jahr wieder „festspielbar“ gemachte Universitätsaula als Orte der Kontemplation.

Giacinto Scelsi ist ein Meister der minimalen Töne und Klangereignisse, ohne allerdings in simplen Minimalismus zu verfallen. Gleich einem Forscher untersuchte, beziehungsweise sezierte Scelsi geradezu den einzelnen Ton und seine Umgebung. Scelsis Reisen ins Innere der Töne eröffnen spezifische Klangwelten, in denen sich häufig – aus einer einzigen Keimzelle – ein Klanggeflecht entwickelt, das sich um herkömmliche tonale Strukturen wenig schert und vor allem eines bewirkt: eine meditative Stimmung. Die im Konzert real zu erlebende, extreme Binnenspannung vieler Werke Scelsis korrespondiert dabei nicht immer mit dem Notierten, auf dem Papier sieht es nämlich oft reichlich unspektakulär, ziemlich monochrom-statuarisch aus.
Das Eröffnungskonzert des „Kontinent Scelsi“ schlug jedoch erstmal eine Brücke zwischen den Zeiten. Mit Perotins in den Raum ausufernden, zugleich auf schwebend verbundene Linien reduzierten Mariengesang „Beata viscera“ beginnt die Entdeckung des kontinentalen Neulands. Es ist ein kunstvoller, großer Atem, der in der Salzburger Kollegienkirche seinen adäquaten Ort findet. Der direkt folgende „Hymnos“ für Orgel und zwei Orchester von Scelsi (entstanden 1963) wirkt wie ein Kommentar, wie eine vorsichtige Weiterführung Perotins. Ausgehend vom Grundton d entwickelt sich das ganze Spektrum von Ober- und Untertönen, gelegentlich huschen kleinteilige Klangfiguren durchs Hörbild, die den ruhig dahinrauschenden Strom indes kaum stören. Beinahe alle in Salzburg gespielten Stücke Scelsis arbeiten mit einzelnen Grundtönen, dessen filigrane Veränderungen und Schattierungen in diversen Besetzungen untersucht werden. Etwa beim vierteiligen Gesangszyklus „Sauh“; hier spucken (mindestens) vier Frauenstimmen Silben aus – in einer sehr eigenwillig-verzuckten Syntaktik, der keine herkömmliche Semantik entspricht. Man muss sich den Sinn dahinter oder darin selbst suchen, von ferne erinnert das vokale Staccatogesprudel an archaische Sprache oder Sprechversuche. Das Beste ist aber ohnehin, sich einfach dem Klangfluss zu überlassen und rationale Andockversuche zu unterlassen.

Im Laufe der Jahre reduzierte Scelsi seine ohnehin mit sparsamen Mitteln arbeitende Kompositionstechnik immer weiter, was möglicherweise mit einer Neigung zum Buddhismus zu tun hat. In seinem letzten großen Orchesterwerk „Pfhat – Ein Blitz … und der Himmel öffnet sich“ (von 1974) kommunizieren tiefes Blech und sanft zischende Kantilenen – die Verbindung von Chor und Orchester aber wirkt an vielen Stellen brüchig und gefährdet. Plötzlich sterben alle Formen und Entwicklungen ab und verschwinden in einem stehenden Cluster aus rasend schnell bewegten Glöckchen.

Erfreulich war das durchwegs hohe Niveau sämtlicher Ensembles und Solisten in Salzburg, beim Eröffnungskonzert leitete Jürg Wyttenbach mit absoluter Präzision die basel sinfonietta, ebenso punktgenau studierte Rachid Safir die acht Sängerinnen und Sänger der jeunes solistes ein und Norbert Brandauer bewies, dass der Salzburger Kammerchor durchaus festspielwürdig ist.

Das zweite Konzert bestritt das Ensemble Modern, von dem man wenig anderes denn Spitzenleistungen erwarten kann. Sian Edwards hatte ob des vielseitigen Programms alle Takte voll zu tun, György Ligetis’ zum Klassiker gewordenes „Konzert für Violoncello und Orchester“ blieb als einziges ein bisschen blass. So ganz passte diese mit der berühmten Flüsterkadenz endende Reflektion über das Genre Solistenkonzert ohnehin nicht zu den beiden vorher gespielten Stücken James Tenneys. Der vergangenes Jahr verstorbene Amerikaner versuchte ähnlich wie Scelsi das Ausloten neuer klanglicher Räume. In „Postal Piece #10 – Koan: Having Never Written a Note for Percussion“ heizt Tenney einem riesigen Tam Tam samt seinem Bediener (exzellent: Rainer Römer) mächtig ein. Zunächst grummelt es wie aus dem Nichts, langsam steigt die Lautstärke, bis nach etwa zehn Minuten das große Crescendo zum ohrenbetäubenden Höhepunkt kommt und danach langsam wieder abfällt. Nach dieser überreizten, energiegeladenen Klangwolke wirkte Tenneys „Scend for Scelsi“ (aus dem Jahr 1996) fast wie eine luftige Erlösung: Sanft vorüberfliegende Akkorde huschen durchs Ensemble, begleitet und konterkariert vom Altsaxophon. Tenneys „In a large, reverberant space“ hingegen arbeitet erneut mit teils langen Bögen, notiert sind diese jedoch nur andeutungsweise, vieles bleibt den Ausführenden selbst überlassen. Georg Friedrich Haas schließlich unternimmt in seinem Stück „Nacht-Schatten“ eine sehr klangsinnliche Verschränkung von mikrotonalem Tonbett und immer wieder hervortretenden, rasch vergänglichen Klangfiguren, vor allem das Englischhorn wird zur zittrigen Einzelstimme auf gärend-grummelndem Untergrund.

Dass Scelsi durchaus Freejazz-kompatibel ist, bewiesen der Gitarrist Marc Ribot und das Ensemble Dissonanzen. In einem Nachtkonzert mischte Ribot Eigenes und Scelsianisches – herausgekommen ist ein munter-buntes Konglomerat, das bisweilen fast tanztauglich ist und wie ein kunstvoll gewebter Teppich wirkt. Auch Mike Svoboda (Posaune), Stefano Scodanibbio (Kontrabass) sowie Michael Kiedaisch (Schlagwerk und Gitarre) holten Scelsi auf den Boden jazziger Beats mit langen, virtuos improvisierten Passagen.

Ein Schwerpunkt des „Kontinent Scelsi“ war Gérard Grisey gewidmet, dem Hauptvertreter des Spektralismus. Sein monumentaler Zyklus „Les espaces acoustiques“ wurde von der basel sinfonietta unter Stefan Asbury realisiert. Griseys Kosmos beginnt in einer Art Ursuppe von Grundtönen, die sich langsam, aber beständig Gehör verschaffen. Sie mäandern in den Raum, fügen sich zu Echos und wandern durch die Instrumente beziehungsweise Instrumentalgruppen. Zunehmend verkompliziert sich das Ganze, bis hin zur Surround-Apotheose mit gewaltigen Akkordgewittern. Auch Griseys selten gespielte Komposition „Le Noir de l’Etoile“ kam zur Aufführung, die sechs Mitglieder der Percussions de Strasbourg verteilten sich, jeweils mit einer veritablen Schlagzeugbatterie zur Seite, in der Kollegienkirche. Grisey interessierte sich bei „Le Noir de l’Etoile“ nicht nur für komplexe Wechselbeziehungen unzähliger, im Wortsinn schlag-kräftiger Instrumente, sondern er integrierte auch astronomische Signale, die per Zuspielband als (gelegentlicher) Rhythmusgeber oder „elektronischer Solist“ wirken. Es rumpelt und ruppelt gewaltig und klingt durchaus agonisch, wenn sich hier virtuelle Sterne und reale Trommeln in ein heftiges Gespräch begeben. Die astralen Signale erinnern übrigens ein wenig an die ko(s)mischen Welten Stockhausens.

Zum besonderen Höhepunkt wurden Griseys „Quatre Chants pour franchir le Seuil“, die unmittelbar vor seinem Tod (1998) entstanden sind. Das Klangforum Wien unter Emilio Pomárico und die formidable Sopranistin Dorothee Mields brachten die vier virtuos gesetzten, düster grundierten Abschiedgesänge zum Leuchten. Im selben Konzert hörte man auch eine vorzügliche Interpretation von Tristan Murails „Désintégrations“, in denen es wieder etwas heller wird und 17 Musiker auf (vom Band eingespielte) Frequenzmodulationen treffen.

Zum Abschluss des „Kontinent Scelsi“ kreierte der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler dann „Sauser aus Italien. Eine Urheberei“. Der erste Teil des Titels bezieht sich auf ein Besprechungsessen zwischen Marthaler und dem Konzertchef der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser – es gab gerade frischen Sauser. Der Abend, eher szenisches Konzert oder musikalische Performance denn Musiktheater, gärt ebenfalls beständig und ausufernd. Eine Urheberei ganz im Sinne und Stile Scelsis ist es geworden, denn so wie etliche der Kompositionen des Italieners ihr Überleben nur einigen Schülern verdanken, die sie notierten, so lebt das Projekt des Schweizers vor allem aufgrund der komplexen Durchwirkung von Musik (Klangforum Wien), Schauspielern (die üblichen Marthaler-Verdächtigen um Bettina Stucky, Josef Ostendorf und Graham F. Valentine) und der Szenerie (ein italienisches Ferienhaus der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts). Auf drei Ebenen, zwischen Fernsehantennen auf dem Dach, Orchestersaal in der Mitte und Aufenthaltsraum mit Elementen eines Büros und einer Küche ganz unten, spielen sich kleine und Kleinstszenen ab – reagierend auf die Musik Scelsis, die die Musiker mal aus dem Off, mal „interagierend“ zum Besten geben. Während die Stücke teilweise durchaus kräftig und laut sind, bleibt die Szenerie konsequent zurückgenommen, reduziert. Da deutet man (und Frau) vorsichtige Tanzbewegungen an oder ein Ventilator dreht sich und bewegt sanft eine Zimmerpflanze. Zwischendurch wird überdimensionierte Unterwäsche aufgehangen (und zuweilen aus großer Höhe fallengelassen), immer wieder sinnieren einige Figuren über den Sinn des Lebens und der (Gefühls-)Kunst („In einer Welt ohne Melancholie, beginnen die Nachtigallen zu rülpsen.“).

Durch die grotesken Momente wird Sauser zu einem durchaus charmanten Korrektiv des spirituellen Pathos, das Scelsis Musik auch ist oder sein kann; in den ganz reduzierten, szenisch quasi stillen Momenten unterstützt Sauser wiederum die andächtige Rezeptionsweise der Klangerkundungen. Einige Takte Respighi und Puccini gibt es übrigens auch noch – ein pfiffiger Verweis auf die Komponisten, die Scelsi einst als prägende Vorbilder verstand…

Jörn Florian Fuchs

 

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