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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 6
56. Jahrgang | September
Magazin
Die Jugendorchester der Welt
young.euro.classic – Europäischer Musiksommer in Berlin
Wenn man den Ort mal für einen Moment vergessen und darüber
hinwegsehen würde, dass die meisten von ihnen ein Instrument
in der Hand halten – es könnten irgendwelche jungen
Leute sein, an jedem Ort des Kontinents. Die typische Geste dieser
Zeit: der ausgestreckte Arm mit dem Fotohandy, der Schnappschuss,
die Momentaufnahme von dem, worüber man zuhause erzählen
wird. Heute erscheinen auf den Displays der Fotohandys Bühne
und Ränge des herrlichen Saals des Berliner Konzerthauses,
seine Kronleuchter, die Büsten der Komponisten an den Wänden – es
sind noch einige Minuten Zeit bis zur Anspielprobe des armenischen
Studentenorchesters aus Jerewan. Des Staunens ist kein Ende, bis
endlich Sergey Smbatyan, der junge Dirigent ungeduldig die Aufmerksamkeit
seines ebenfalls noch jungen Orchesters einfordert.
Zum
dritten Mal dabei: das Symphonieorchester des Konservatoriums
Shanghai. Foto: Kai Bienert/young.euro.classic
Festivalalltag – Probenalltag. Wenn nicht gerade in dem etwas
außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Saal geübt wird,
dann sind es die nachmittäglichen Anspielproben hier im Konzerthaus,
bei denen sich die jungen Musiker mit den Bedingungen des Großen
Saals im Konzerthaus vertraut machen. Insgesamt 15 Jugendorchester
treffen sich zum nun bereits achten Festival „young.euro.classic“.
Zweieinhalb Wochen aufregender, mit Musik und Begegnungen angefüllte
Tage mit den besten ihres Fachs, die im Verlaufe des zurückliegenden
Jahres weltweit ausgemacht und eingeladen wurden. Folglich war
auch diesmal nicht nur der musikalische Bogen, der hier gespannt
wurde besonders weit und sogar exotisch. Sichtbar wurden auch die
verschiedenen Bedingungen, unter denen die Orchester in ihren Heimatländern
arbeiten. Interessant die daraus resultierenden verschiedenen Ansätze
der Programmgestaltung. Einerseits waren viele Orchester um die
Präsentation nationaler musikalischer Traditionen bemüht,
andererseits war selbstverständlich das klassische Erbe ebenso
im Programm vertreten und gerade hier setzten sich die Orchester
hohe Maßstäbe. Besonders hervorzuheben ist die große
Anzahl der Erst- und Uraufführungen von Stücken, von
denen viele als Auftragswerke des Festivals entstanden.
Beispielsweise das Barockkonzert für Violine und Streicher
von Edgar Hovhannisian, das hier als Deutsche Erstaufführung
erklang. Ein kraftvolles und lyrisches Stück zugleich, gespielt
vom Symphonieorchester des Jerewaner Staatlichen Komitas Konservatoriums,
bei dem Sergey Smbatyan auch den Solopart der Geige übernahm.
Der Gründer und Leiter ist gerade mal 20 Jahre alt und Gewinner
verschiedener internationaler Violinwettbewerbe. Vor drei Jahren
hatte er neben seiner Geigenausbildung ein Dirigentenstudium begonnen.
Im November 2005 gründete er das Studentenorchester des Konservatoriums
und schon drei Monate später fand das erste Konzert statt.
In Berlin stellte es sich nun mit interessanten Stücken vor:
Ungewöhnlich in der Zusammensetzung des Instrumentariums war
zum Beispiel Eduard Mirzoyans Sinfonie für Streichinstrumente
und Kesselpauke. Rodion Schtschedrins Bearbeitung der Bizet’schen „Carmen-Suite“ für
Streichorchester und Schlaginstrumente schließlich geriet
zum Freudentanz für die große Percussionistensektion
des Orchesters, das übrigens ganz ohne Bläser angereist
war. Alle Musiker sind Studenten des Konservatoriums, das in Jerewan
beheimatet ist. Sie hatten in den letzten Wochen ein umfangreiches
Probenprogramm hinter sich: fünf Tage die Woche – jeweils
fünf Stunden. „Mein Lehrer sagte mir: Wenn du auf der
Bühne gut sein willst, dann musst du auf der Bühne üben“,
erzählt Sergey Smbatyan. Es ist trotz solcher Anstrengungen
für beide Seiten eine komfortable Situation: der junge Dirigent,
selbst noch Student am Konservatorium, hat ein „eigenes“ Orchester,
mit dem er regelmäßig arbeiten und seine Repertoirevorstellungen
verwirklichen kann. Die Studenten wiederum erleben durch das vielfältige
Programm und enorme Pensum eine ganz praxisnahe Ausbildung für
ihren zukünftigen Alltag als Musiker – wenn er denn
einkehren sollte. Gerade in Deutschland stellt sich die gegenwärtige
Orchesterlandschaft allzu oft als Ödland für die Träume
und Wünsche ganzer Generationen von Hochschulabsolventen dar.
Immer schmalere Budgets sowohl für die professionellen als
auch für die Laienorchester und die gängige Praxis der
Orchesterzusammenlegung beerdigen reihenweise Musikerkarrieren,
bevor sie überhaupt begonnen haben.
Von all dem jedoch war in den knapp drei Festivalwochen nichts
zu spüren. Unbenommen blieb allen, auch dem Publikum, die
herrliche Freude, die große Ernsthaftigkeit und zugleich
auch Unbekümmertheit, mit der die jungen Musiker zu Werk gingen.
Hoch motiviert und neugierig aufeinander erlebten sie ihre „Kollegen“ der
jeweils anderen Orchester. Natürlich wurde auch die Unterschiedlichkeit
des musikalischen Niveaus der einzelnen Orchester deutlich. Für
Patrick Lange, der das Bundesjugendorchester in diesem Jahr dirigierte,
spielte der Wettbewerbsgedanke beim Festival natürlich eine
große Rolle, zugleich aber auch, wie er in einem Interview
sagte, die Freude am Austausch: „Zu wissen, wie es in anderen
Ländern ist, ihre musikalischen Schulen kennenzulernen und
damit voneinander zu lernen…“
Dazu freilich gab es in diesem Jahr reichlich Gelegenheit, etwa
vom Royal Oman Symphony Orchestra. Klassische Musik im Wüstenstaat?
Haydn, Mozart oder Beethoven in einem Land mit gänzlich anderen
kulturellen und musikalischen Traditionen? Für Issam EI-Mallah,
den musikalischen Berater der Regierung des Oman und Professor
an der LMU München durchaus selbstverständlich! In einem
Interview beschrieb er die Nachwuchsgewinnung für das Orchester,
die sich hierzulande freilich wie ein Märchen aus 1001 Nacht
anhört: „Die Musiker findet man in normalen Schulen,
man holt sie dann in ein Internat. Dort werden sie auch in den
Hauptfächern der normalen Schule unterrichtet, dazu erhalten
sie ihren Instrumentalunterricht und sogar ein kleines Taschengeld.
Natürlich haben sie Glück, denn die dortigen Lehrer unterrichten
sie viel häufiger als in einem normalen Konservatorium.“ Auf
die Frage nach der Kluft zwischen der traditionellen arabischen
und der klassischen europäischen Musik antwortete er: „Ich
würde das nicht miteinander vergleichen. Ich würde das
nebeneinander stellen, dann gibt es keine Kluft. Da sind andere
Strukturen, Instrumentarien und kulturelle Bedingungen.“ Interessanter
Beleg für seine Ausführungen war denn auch das Programm,
mit dem die jungen omanischen Musiker aufwarteten: Dmitri Schostakowitschs „Festliche
Ouvertüre“, eine „Andalusische Suite für
Oud und Orchester“ von Marcel Khalife, weiterhin eine Shanti
Priya für indische Violine und Orchester und als weitere deutsche
Erstaufführung Hamdan Al Shuailys „The Blessed Renaissance“.
Bereits zum dritten Mal und quasi schon als alte Bekannte des
Festivals wurden die Musiker des Symphonieorchesters des Konservatoriums
Shanghai zu ihrem Konzert begrüßt: hervorragend geschult,
sensibel und temperamentvoll zugleich. Seit seinem 15-jährigen
Bestehen hat sich das Orchester ein breites Repertoire westlicher
wie auch zeitgenössischer chinesischer Musik erarbeitet. Die
etwa 80 jungen Musikerinnen und Musiker zwischen 18 und 28 Jahren – allesamt
Chinesen – proben regelmäßig und absolvieren etwa
10 bis 15 Konzerte pro Jahr. Bei dem hohen Standard fast schon
erwartungsgemäß hatte das Shanghai-Orchester in diesem
Jahr denn auch eine Uraufführung im Programm: Das Stück „Spätherbst
für Orchester“ komponierte Guohui Ye als Auftragswerk
für young.euro.classic. An ihn ging in diesem Jahr auch der
mit 5.000 Euro dotierte Europäische Komponistenpreis der Stadt
Berlin. Die Komposition „Spätherbst für Orchester“,
so die Jury-Vorsitzende Christiane Tewinkel in ihrer Laudatio, überzeuge
durch die Kunst der Instrumentierung, die spannende bogenförmige
Anlage und die Fähigkeit, die Empfindung von Zeit zu konzentrieren.
Eine elfköpfige Publikumsjury wählte das Werk aus insgesamt
14 Uraufführungen und Deutschen Erstaufführungen aus.
Und so war denn auch eine weitere Premiere in der Festivalgeschichte
beinahe schon normal: die Gründung des young.euro.classic
Festivalorchesters Deutschland–China unter der Leitung des
prominenten chinesischen Dirigenten Muhai Tang. Es setzt sich aus
Studenten des Konservatoriums Shanghai und Musikern der Jungen
Deutschen Philharmonie zusammen.
Ihre Beitrag zu den Festivalkonzerten dieses Jahres dokumentierten
erfolgreich den interessanten Versuch des Brückenschlags zwischen
den verschiedenen Kulturen: Stefan Johannes Hankes „Flammengesang“ und
Musheng Chens „Traum im Pfingstrosengarten“ wurden
als Auftragswerke von young.euro.classic uraufgeführt – flankiert
von Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur KV 488 und der Symphonie
Nr. 1 c-Moll von Johannes Brahms.
Das Orchester ging im Anschlss an das Festival auf Tournee nach
China, wo die Tour durch sechs Städte führte: Qingdao,
Nanjing, Wuxi, Shanghai, Beijing und Tianjin. Eine weitere schöne
Möglichkeit, die weltumspannende Idee von grenzenloser Kunst
zu leben – und mit Sicherheit klicken auch auf dieser Reise
die Fotohandys…