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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 16
56. Jahrgang | September
Forum Musikpädagogik
Wir brauchen einen neuen Humanismus
Projekt mit Modellcharakter: die erste Bayerische Musikhauptschule
In Österreich sind Musikhauptschulen seit den 70er-Jahren
fest im Regelschulwesen etabliert, in Deutschland hingegen ist
musikalische Bildung immer noch etwas für eine Elite: Schulen
mit Musikschwerpunkt sind zum überwiegenden Teil Gymnasien.
In Ruhstorf an der Rott (Landkreis Passau) ist man jedoch dem österreichischen
Beispiel gefolgt, dort gibt es seit dem Schuljahr 2003/2004 die „1.
Bayerische Musikhauptschule“ – ein vielfach preisgekröntes
Projekt mit Modellcharakter, dem weitere sieben Hauptschulen im
Bundesland folgen sollen.
Während quer durch alle Medien Politiker, Lehrer und Eltern
die Abschaffung der als „Restschule“ verschrieenen
Hauptschule fordern, geht das Bundesland Bayern den umgekehrten
Weg und wertet die Hauptschulen durch Musikförderung auf.
Dass es so weit kommen konnte, ist nicht zuletzt dem Engagement
des Rektors der Ruhstorfer Grund- und Musikhauptschule geschuldet.
Seit 1971 ist Josef Bertl, 60, als Lehrer an der Schule und seitdem
setzt er sich dort für die Musik ein. Zurückgehend auf
die Idee von Carl Orff, jedem Kind eine Stunde Musikunterricht
am Tag zu ermöglichen, begann in Ruhstorf bereits 1975 der
erweiterte Musikunterricht mit einer zusätzlichen wöchentlichen
Musikstunde. Schulleitung und Schulamt stellten verstärkt
Lehrer mit Musikausbildung ein, die gemeinsam schulinterne Musik-Projekte
anboten. 1996 erfuhr Bertl aus der Zeitung vom Musikhauptschulsystem
in Österreich. Er knüpfte Kontakt zur nahe gelegenen
Musikhauptschule in Schärding und war begeistert: „In
Schärding habe ich ein System gesehen, das mit einfachen Mitteln
auch in Bayern umzusetzen wäre – so dachte ich in meiner
Einfältigkeit. Ich habe nicht mit der Widerständigkeit
der deutschen Behörden gerechnet.“ Eine grenzüberschreitende
Partnerschaft der beiden Schulen war schnell beschlossen, eine
zweite Partnerschaft mit der Musikmittelschule „Josef Wenter“ in
Meran (Südtirol) folgte drei Jahre später. Doch die Umsetzung
der Musikhauptschul-Idee in Deutschland erwies sich als schwierig.
1999 begann Bertl Anträge zu stellen. Gleichzeitig vereinbarte
die Schule – bis dahin einmalig in Bayern – eine Kooperation
mit der Kreismusikschule Passau. Ähnlich wie in Österreich
kamen nun die Musikschul-Lehrer für den Instrumentalunterricht
an die Volksschule – und zwar vormittags während der
Regelunterrichtszeit. „Ich dachte, wenn wir das ausbauen,
können wir den Staat dazu bewegen, die Musikstunden zu bezahlen – eine
Illusion!“, wie Bertl feststellen musste. Immer wieder fuhr
er nach München, führte Gespräche, versuchte die
politischen Entscheider von seiner Idee zu überzeugen. Plötzlich,
2003, kam die Nachricht, dass seine Schule die erste Musikhauptschule
Bayerns wird. Mit diesem Titel wurde das Kontingent an zugeteilten
Musikstunden auf zwölf erhöht, doch die angestrebte tägliche
Musikstunde war damit noch nicht möglich. Auch reichen die
Staatsmittel noch nicht aus, um den zusätzlichen Instrumentalunterricht
vollständig zu finanzieren. Die Schule ist weiterhin auf eine
Mischfinanzierung aus Spendengeldern, Elternbeiträgen und
Zuschüssen der umliegenden Gemeinden angewiesen, deren Schüler
die Musikhauptschule ebenfalls besuchen können.
In Ruhstorf beginnt der erweiterte Musikunterricht im zweizügigen
Grundschulbereich mit einer zusätzlichen Stunde Blockflötenunterricht,
der für alle Schüler verbindlich ist. Ab Klasse drei
kommt noch eine Stunde Chorgesang oder „Kreativ“ (Tanz,
szenische Darstellung, Instrumentenspiel) hinzu. Ab Klasse fünf
wird für einen der beiden Züge eine Musikklasse eingerichtet.
Die Kinder dort können ein Instrument ihrer Wahl erlernen.
Unterrichtet werden sie darin eine Stunde pro Woche vormittags
durch Lehrer der Kreismusikschule. Der Regelunterricht wird dadurch
in den Nachmittag hinein verlängert. Eine zweite zusätzliche
Stunde ist für das Ensemblespiel vorgesehen, alternativ ist
auch Chorgesang wählbar. Ab Klasse sieben müssen sich
alle bayerischen Schüler zwischen den Fächern Kunst und
Musik entscheiden. Landesweit wählen nur 18 Prozent der Schüler
Musik, in Ruhstorf dagegen ist es rund die Hälfte.
Von der
Musik „infiziert“
Josef Bertl liegen seine Schüler am Herzen, genau wie die
Musik. Schon früh wurde er von ihr „infiziert“,
wie er sagt, als Schüler bei den Regensburger Domspatzen.
Dort kam er nicht nur mit der Musik, sondern auch mit dem Humanismus
in Berührung – und dies sind bis heute auch die beiden
Säulen seiner Pädagogik geblieben. „Der Mensch
muss als Ganzes gesehen werden. Mathematik, Deutsch, Englisch,
das alles ist wichtig, doch die Seele muss auch mitschwingen. Und
das geht im künstlerischen Bereich am besten“, ist Bertl überzeugt. „Wir
brauchen einen neuen Humanismus!“ „Über den musikalischen
Erfolg kommt der schulische“, ist seine Erfahrung. Doch besonders
wichtig ist ihm die integrative Kraft des gemeinsamen Musizierens – ein
Aspekt, der gerade für Hauptschüler wichtig ist, wie
er findet. „Die Kinder sind zu vielem fähig, man muss
sie nur fordern“, ist Bertl überzeugt. „Gerade
unsere Hauptschüler, auf die man immer so herab sieht, die
können sehr viel. Und sie leisten was für die Region.“
Die Musikhauptschüler sorgen dafür, dass das kulturelle
Leben im Ort weitergetragen wird, denn sie sind es, die den Nachwuchs
für die Chöre und Blaskapellen der Region stellen. Sie
sind gefragt, wann immer es im Ort etwas zu feiern gibt. Sie spielen
an Fasching im Altersheim, singen in der Pfarrkirche zum Advent
genauso wie auf der großen Bühne der Ruhstorfer Niederbayernhalle.
Alle zwei Jahre inszenieren sie zusammen mit den Partnerschulen
aus Schärding und Meran ein großes Stück. Letztes
Jahr war es das Musical „Der kleine Tag“. Dort auf
der Bühne zu stehen stärkt das Selbstvertrauen.
Die Musikhauptschüler lernen, dass sich Kreativität,
Disziplin und Ausdauer auszahlen. Und durch ihre starke Präsenz
im Gemeindeleben erfahren sie eine große Akzeptanz und Anerkennung
in der Bevölkerung. Anerkennung kommt auch von anderer Seite:
Schüler und Schule haben schon einige Preise gewonnen. Zuletzt
wurde die Schule mit dem „Inventio 2006“ des Deutschen
Musikrates und der Stiftung „100 Jahre Yamaha“ ausgezeichnet,
und beim bundesweiten Wettbewerb „Musik gewinnt 2006“ waren
die Ruhstorfer Schüler ebenfalls unter den Preisträgern.
Der zusätzliche Musikunterricht und die vielen Projekte verlangen
Lehrern, Schülern und Eltern einiges an Einsatz ab. Doch die
Mühe lohnt sich, nicht nur wenn der Applaus kommt. Das Gewaltpotential
ist sehr viel niedriger als an den umliegenden Schulen, wo die
Kinder keine Beschäftigung haben, hat Rektor Bertl festgestellt.
Und nicht zuletzt eröffnet die musikalische Schulung den Kindern
auch neue Berufsperspektiven. Die Berufsfachschule für Musik
steht ihnen offen und damit eine Ausbildung zum Musiklehrer oder
Musiktherapeuten – eine durchaus realistische Möglichkeit,
da sich in der Ruhstorfer Umgebung mehrere Heilbäder befinden,
die Bedarf an musiktherapeutischen Fachkräften haben. Mehrere
ehemalige Musikhauptschüler haben diesen Weg bereits eingeschlagen.
Auch für andere Ausbildungsberufe scheint das Musizieren eine
gute Vorbereitung zu sein: Von den 20 Schülern des letzten
Abschlussjahrgangs hatten im Mai bereits 18 einen Ausbildungsvertrag
in der Tasche.
Natürlich sind die Bedingungen für Hauptschulen in einer
bayerischen Kleinstadt andere als in großstädtischen
sozialen Brennpunkten wie Berlin-Neukölln. Doch es scheint,
als ob dort, wo der Staat seinen kulturellen Bildungsauftrag so
ernst nimmt wie in Ruhstorf an der Rott, tatsächlich so etwas
wie eine „Schutzimpfung gegen Medienverwahrlosung“ wirksam
wird, die der Kriminologe Christian Pfeiffer auf dem Mannheimer
VdM-Kongress dem Musikunterricht zusprach.
Die Erfolge sind für Josef Bertl aber noch lange kein Grund,
seine Hände in den Schoß zu legen. Der Träger des
Bundesverdienstkreuzes, der nebenberuflich noch mehrere Chöre
leitet, Vorsitzender des Sängerkreises Passau und Mitglied
im kulturpolitischen Ausschuss des Landtags ist, hat noch einiges
vor. Zum neuen Schuljahr beginnt – zunächst mit nur
einer Hauptschulklasse – die sukzessive Umwandlung zur Ganztagsschule.
Außerdem soll die Schule generalsaniert und erweitert werden.
Und schließlich ist das Ziel, jedem Kind täglich eine
Stunde Musikunterricht zu ermöglichen, noch nicht erreicht. „Ich
kann einfach nicht ruhig sein in der Richtung,“ resümiert
Bertl, „weil ich davon überzeugt bin, es nutzt der Gesellschaft
und es nutzt unseren Kindern.“