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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 43
56. Jahrgang | September
Rezensionen-CD
Eklektiker und Originalgenies
Interessante Kammermusik-Aufnahmen aus der Reihe „American
Classics“
Continuum, ein 1966 von den New Yorker Pianisten Cheryl Seltzer
und Joel Sachs gegründetes Ensemble, hat sich in Konzerten
und auf Tonträgern auf Portraits einheimischer Komponisten
spezialisiert. Ursprünglich bei der Musical Heritage Society
erschienene Aufnahmen sind dank Naxos endlich auch uns zugänglich.
Keine Betrachtung der musikalischen Moderne in den USA kommt
ohne ihren Vorreiter Charles Ives (1874–1954) aus, der vielleicht
auch deshalb so wenig Rücksichten auf Konventionen nahm, weil
er als erfolgreicher Geschäftsmann von seiner Musik nicht
zu leben brauchte. Seine kürzeren Klavierwerke, Lieder und
Ensemblestücke – wie fast all seine Kompositionen aus
dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts stammend – zeichnen
sich durch einen schamlosen musikalischen Eklektizismus aus, eine
Polystilistik, wie sie vielleicht erst Zeitgenossen Schnittkes
halbwegs begreifbar ist. Ungeachtet seines Avantgardismus’ muss
man Ives etwas genuin Amerikanisches, durch den Schmelztiegel-Charakter
dieser heterogen zusammengesetzten Nation Bedingtes zusprechen.
Aber so sehr wir uns hundert Jahre nach Ives mit dem uns umgebenden
Pluralismus der Stile abgefunden haben, so wenig ist seine querständige
Musik konsumierbar geworden; ihr verstörendes Potential ist
keineswegs verflogen. Ives scheint einige seiner Geheimnisse mit
ins Grab genommen zu haben.
Eine besondere Affinität hegen die Mitglieder von Continuum
für Henry Cowell (1897–1965); ihm sind gleich zwei CDs
der Reihe gewidmet. Cowell, obwohl eine Generation jünger
als Ives, erzielte durch sein regelmäßiges Auftreten
als pianistisches „enfant terrible“ von Jugend an eine
durchschlagende Wirkung beim Publikum und vor allem bei dem ihm
folgenden Komponisten Cage. Cowell war es, der die lnnenwelten
des Klavieres ebenso entdeckte wie den systematischen Einsatz von
Clustern. Ihm ging es jedoch nie um bloße Effekthascherei
mit diesen neuartigen – mal geheimnisvollen, mal aggressiven – Klängen;
er erweiterte das einem Klavierkomponisten zur Verfügung stehende
Vokabular enorm. Die Geigenstimme seiner „Suite für
Violine und Klavier“ könnte dagegen beinahe wieder von
Bach stammen, wie er überhaupt der Geige immer wieder die
schönsten Kantilenen, aber auch hummelflugartige Einlagen
anvertraut. Über zwei kurzweilige Stunden hinweg lernen wir
Musik aus einem Zeitraum von fünfzig Jahren in unterschiedlichsten,
oft unkonventionellen Besetzungen kennen und fragen uns, wie ein
solch faszinierender Komponist, der auch ein Pionier der Weltmusik
war („Set of Five“; „Homage To Iran“, beide
auf Vol. 2), derart in Vergessenheit geraten konnte; dabei liest
sich selbst Cowells Biographie streckenweise wie ein Roman.
Zu später Berühmtheit gelangte dagegen Conlon Nancarrow
(1912–97), dessen aberwitzige Stücke für Player
Piano zu seinem 10. Todestag übrigens gerade bei Dabringhaus
und Grimm in einer Neueinspielung herauskommen. Bevor sich der
von Cowells Entdeckungen ebenfalls beeindruckte Nancarrow ganz
aufs langwierige Stanzen von Klavierrollen verlegte (und Jahrzehnte
später, als er endlich Kompositionsaufträge erhielt),
schrieb der im mexikanischen Exil lebende Amerikaner auch für
herkömmliche Instrumente. Eine Handvoll dieser Stücke
vereinigt sein Continuum-Portrait, und man wird den Verdacht nicht
los, dass das Selbstspielklavier für ihn keineswegs eine Notlösung,
sondern das ideale Transportmittel seiner Ideen war. Die kleinformatigeren
Stücke vom Klaviersolo bis zum Streichquartett wirken vor
diesem Hintergrund spröde und nicht ganz ausgegoren – wie
Zugeständnisse an einen Musikbetrieb, der auf der Bühne
verständlicherweise leibhaftige Musiker erleben möchte.
Umso faszinierender, von einem so ausschließlich mit entfesselten
Klavierklängen assoziierten Komponisten auch einmal „Pieces
for SmaIl Orchestra“ zu hören (Nr. 1 entstand 1943,
Nr. 2 erst 1986); seine Liebe zu komplexen Polyrhythmen bricht
sich auch dort Bahn.
Nun zu verschiedenen Einzelaufnahmen mit amerikanischer Kammermusik.
Wer Aaron Copland nur als Urheber populärer Ballette kennt,
würde ihm die nächste Aufnahme nicht zuordnen. Seine
drei Hauptwerke für Klavier hat der offenbar nicht zu Unrecht
mit den höchsten Preisen dekorierte Benjamin Pasternack jetzt
auf einer CD gebündelt: Ein zwar ungemein männlich-vitaler,
aber sich zugleich merkwürdig kasteiender, die dünne
Höhenluft der Abstraktion mit Wonne inhalierender Komponist
tritt einem in den Variationen von 1930, der dreisätzigen
Sonate (um 1940) und dem einsätzigen Koloss der Fantasy (1955–57)
entgegen. Die kristallklare, wie in Granit gemeißelte Interpretation
Pasternacks stellt unser von den immergleichen „showpieces“ geprägtes
Copland-Bild durch eine vollkommen anders geartete Perspektive
in Frage.
Den Beginn seines Spätwerks und der mehrheitlich mit wenigen
Akteuren auskommenden, dafür außerordentlich langen
Werke markiert Morton Feldmans „String Quartet“ von
1979, das damit eine ähnliche Schlüsselstellung gewinnt
wie Nonos fast gleichzeitiges „Fragmente – Stille,
an Diotima“. Auch bei Feldman (1926–87) spielt die
Stille, konkret: die Neigung zu Pausen und reduzierter Lautstärke,
eine zentrale Rolle. Eine begrenzte Zahl von Modulen kehrt im Verlauf
von etwa anderthalb Stunden beständig wieder, jeweils leicht
und kaum merklich verändert. Während in der Minimal Music
ein steter Puls die musikalischen Abläufe strukturiert und
das Stück vorantreibt, bis es irgendwann willkürlich
abbricht, erinnert Feldmans Komposition an ein Mobile aus Legosteinen,
die sich durch veränderte Stellung und Beleuchtung zu immer
neuen Mustern zusammenfinden. Rein klanglich nehmen Feldmans „con
sordino, senza vibrato“ gespielte Gebilde John Cages dreißig
Jahre älteres Quartett zum Ausgangspunkt; ihre Wirkung auf
den Hörer indes ist schon durch die abendfüllende Länge
eine gänzlich andere.
Zum Schluss noch ein lebender unter den von mir eingangs als
typisch amerikanisch apostrophierten Eklektikern: William Bolcom
(Jahrgang
1938) hat vor zwei Jahren durch die preisgekrönte Einspielung
seiner monumentalen William-Blake-Vertonung „Songs of lnnocence
and of Experience“ international auf sich aufmerksam gemacht.
Ohne Ausweichungen ins populäre Genre, aufs Wesentliche konzentriert,
präsentieren sich seine über vierzig Jahre hinweg komponierten
vier Violinsonaten, die exakt auf eine CD passen. Dass Bolcoms
Liebe neben der Singstimme insbesondere der Geige gilt, ist diesen
aus den verschiedensten lnspirationsquellen gespeisten, dabei fast
klassisch ausgewogenen Gebilden in jedem Takt anzuhören. Geigentechnisch
besonders aufschlussreich geriet ihm die zweite, dem Andenken des
eben verstorbenen Joe Venuti zugedachte Sonate von 1978, in der
Bolcom die Palette der zur Verfügung stehenden Spielweisen
um jazztypische Floskeln ergänzt. Das Musikerpaar Solomia
Soroka/Arthur Greene hat sich kopfüber in die gar nicht so
unterschiedlichen Welten der vier virtuosen, aber dankbaren Werke
gestürzt. Der Verdacht, dass sich Interpreten nur mit wirklich
ergiebigen Vorlagen rückhaltlos zu identifizieren vermögen,
bestätigt sich auf einer parallel veröffentlichten Sammlung
mit Bolcoms Musik für zwei Klaviere: Zünftige „Recuerdos“ (Erinnerungen
an lateinamerikanische Musiker) und augenzwinkernde Auszüge
aus der Suite „Garden of Eden“ bilden dort eine Klammer
um ebenso lange wie entbehrliche Schöpfungen „absoluter“ Musik,
aus deren taubem Gestein nicht einmal der Gott des Feuers Funken
schlagen könnte. In Phasen der Inspiration jedenfalls – und
derer gibt es bei ihm viele – gelingt Bolcom die Quadratur
des Kreises, und er schreibt ernst gemeinte Musik, die niveauvoll
unterhält – oder unterhaltsame, die den Hörer ernst
nimmt. Ein hehres, nach WeilIs Emigration in unserer europäischen
Kunstmusik kaum mehr erreichtes Ideal.
Mátyás Kiss
Diskographie
(alle erschienen in der Serie Naxos American Classics)
– Continuum Portraits (Auswahl):