Wenn die französische Organistin Marie-Claire Alain in den
1950er- und 1960er-Jahren in Deutschland konzertierte, fehlte in
ihren Programmen nie ein Stück ihres fünfzehn Jahre älteren
Bruders Jehan-Aristide. Dessen in der französischen Orgeltradition
stehende Musik lernte man bei uns durch sie kennen und wertschätzen.
1940 war der Komponist, erst 29-jährig, an der Kriegsfront
gegen die Deutschen gefallen. Die Chance für eine breite Rezeption
seines Werks wurde damit zunichte gemacht. Der drei Jahre ältere
Messiaen hatte in deutscher Kriegsgefangenschaft überlebt
und nahm danach, was die Wirksamkeit beider Komponisten betraf,
gewissermaßen Alains Stelle ein. Nun ist eine Doppel-CD mit
zweieinhalb Stunden der höchst originären Orgelmusik
Alains erschienen. Marie-Claire Alain hat sie 1999/2000 auf Lieblingsorgeln
ihres Bruders aufgenommen und diese Edition im Begleittext engagiert
kommentiert.
Die von ihr berücksichtigten Stücke sind ausnahmslos
Miniaturen, die meisten zwischen vier und sechs Minuten lang, die
im kompositorischen Ansatz von unterschiedlichsten Strukturen ausgehen – spieltechnischen,
tonartlich modalen, rhythmischen, melodischen, auch literarischen.
Das kompositorische Ergebnis, schwankend zwischen romantischem
Ausklang
und Ausblicken in die Moderne, mutet an wie eine ausgefeilte Improvisationskunst.
Ein geradezu magischer Bann verbreitet sich beim Hören, schlägt
den Erinnerungsbogen zu den frühen Eindrücken zurück.
Der durch Marie-Claire Alain hochkompetent vermittelte Eindruck
bewirkt einen anhalt-enden Zauber.