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nmz-archiv
nmz 2007/09 | Seite 25
56. Jahrgang | September
Verbandspolitik
Guter Musikunterricht: „Hat Kopf, Hand, Fuß und Herz“
Ortwin Nimczik, Vorsitzender des Verbands Deutscher Schulmusiker,
im Gespräch mit der neuen musikzeitung
Ortwin Nimczik ist seit 1994 Professor für Musikpädagogik
und -didaktik sowie Leiter der Schulmusikabteilung an der Hochschule
für Musik in Detmold. Seit November 2006 bekleidet er das
Amt des Bundesvorsitzenden im Verband Deutscher Schulmusiker (VDS).
Für die neue musikzeitung traf sich Susanne Fließ mit
ihm zum Gespräch.
Ortwin
Nimczik. Foto: privat
neue musikzeitung: Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang? Ortwin Nimczik: Ich
hatte das Glück, in einer Zeit zu studieren,
als es noch keine Studiengebühren gab. So konnte ich drei
Studien abschließen: ein reguläres Musiklehrerstudium,
ein künstlerisches Studium im Bereich Komposition, das mit
der damals so genannten „Künstlerischen Reifeprüfung“ endete,
und schließlich ein Promotionsstudium, das ich mit einer
musikpädagogisch ausgerichteten Promotion bei Prof. Dr. Klaus
Schaller abgeschlossen habe. Mein direktes Ziel war, Musiklehrer
zu werden.
Ich unterrichtete in den folgenden Jahren am Gymnasium
sowie an einer Gesamtschule vornehmlich Musik. Mein zweites Unterrichtsfach
Erziehungswissenschaft spielte eine marginale Rolle. Ich unterrichtete,
manchmal über ein ganzes Schuljahr hinweg, ausschließlich
Musik. Auch damals herrschte Musiklehrer-Mangel, dies ist ja kein
neues Phänomen. Nach fünf anstrengenden, aber schönen
Arbeitsjahren wurde ich 1989 Fachleiter für Musik am Studienseminar
in Dortmund. In den Begegnungen mit den Referendarinnen und Referendaren
sowie der Kooperation mit den Kollegen an den verschiedenen Schulen
in meinem Arbeitsbereich habe ich unendlich viel lernen können.
All dies wurde für meine eigene Unterrichtstätigkeit äußerst
anregend und für die weitere Tätigkeit sehr wichtig.
Zum Sommersemester 1994 wurde ich dann nach Detmold berufen.
nmz: Wann kreuzten sich denn Ihre Wege zum ersten Mal mit denen
des Verbandes? Nimczik: Mit dem VDS kam ich schon
Ende der 1970er-Jahre, also noch als Student, in Berührung. Der damalige Studiengangsleiter
verteilte eines Tages in seinem Seminar Beitrittsformulare für
den VDS. Leicht schmunzelnd und gemäß dem Motto: „Also,
wenn Sie mal Examen machen wollen, dann sollten Sie schon ... “.
Zu diesem Zeitpunkt war mir die Arbeit eines musikpädagogischen
Verbandes allerdings noch gar nicht geläufig. Zwar wurde ich
bald Mitglied, allerdings interessierte mich am meisten die Zeitschrift „Musik & Bildung“,
die die VDS-Mitglieder aus NRW erhielten. Die regelmäßige
Lektüre weckte mein musikpädagogisches Interesse und
dadurch auch das am VDS. Ich nahm verstärkt die Angebote zu
Fortbildungen wahr, stieg dann selbst in diese Arbeit ein und plötzlich
war ich mitten drin in der Verbandsarbeit, zunächst im Rahmen
der Fortbildung auf der Landesebene des VDS. Ab 1988 war ich regelmäßig
Referent der Bundesschulmusikwochen. Die beständigen Gespräche,
der Austausch und die Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen
in den Kursen wurden für mich zu einer Art Lebenselixier.
Ab 1997 erstreckte sich meine Tätigkeit dann auch auf den
Bundesvorstand, zunächst als Grundsatzreferent, dann als stellvertretender
Bundesvorsitzender und schließlich, ab November 2006, im
Amt des VDS-Bundesvorsitzenden.
nmz: Das Voneinanderlernen ist im VDS ein ausgeprägtes Prinzip? Nimczik: Ja, das sehe ich so. Das Prinzip der Lehrerfortbildung
im VDS war immer darauf ausgerichtet, Vorschläge zu machen,
nicht schlichte Rezepte auszuteilen. Wir möchten Impulse setzen
und Anregungen für den Musikunterricht geben. Sicherlich sollen
die Kollegen sich mit ihrer eigenen Professionalität auch
daran reiben. Schließlich müssen sie auswählen
und entscheiden, was in ihrem Unterricht umsetzbar und machbar
ist.
nmz: Aufgrund dieses Prinzips bekamen und bekommen Sie ja von
der Basis sehr viel zurückgespiegelt. Hat sich dadurch die Lehre
an den Hochschulen verändert? Nimczik: Blickt man auf die letzten 20 Jahre zurück, dann
hat sich Entscheidendes verändert: Die Ausbildung von Musiklehrern
hat sich von einer musikwissenschaftlichen Verengung und einer
falsch verstandenen künstlerischen Dominanz emanzipiert. Sie
hat sich zu einem berufsbezogenen musikpädagogischen Ausbildungsgang
entwickelt. In diesem Zusammenhang spreche ich lediglich die enorm
gewachsene Bedeutsamkeit der Studienfelder Schulpraktisches Klavierspiel,
Improvisation, Schulpraktisches Musizieren und Klassenmusizieren,
Arrangieren oder Ensembleleitung an. Zudem spielt die Polyvalenz
der Ausbildung eine wichtige Rolle, ebenso wie individuelle Profilbildungen
und Akzentsetzungen. Die besondere Integrationsleistung im Musiklehrerstudium
besteht vor allen Dingen darin, die verschiedenen Studienfelder
zusammenzuführen und auf die Schulpraxis hin zu fokussieren.
Die Schule von heute und die Schule der Zukunft braucht Musiklehrer,
die äußerst engagiert am Aufbau musikalischer Kompetenz
ihrer Schüler arbeiten, die Schüler im gemeinsamen Singen
und Musizieren, in der Ensemblearbeit begeistern und die mit ihren
Schülern die Dimensionen der Musikkultur erschließen.
nmz: Der Wechsel an der Spitze des VDS war ja ein sanfter, denn
seit 1997 gehörten Sie dem Vorstand schon an. Wird es unter
dem neuen Bundesvorsitzenden neue Schwerpunkte geben? Nimczik: Ich möchte zunächst noch nicht von neuen Schwerpunkten
sprechen, denn mein Vorgänger, Freund und Kollege Prof. Dr.
Hans Bäßler hat dem VDS eine Richtung gegeben, die zu
100 Prozent auch meiner Vorstellung entspricht.
Der VDS hat in der Verbandsarbeit sehr deutlich Signale gesetzt:
Wir haben bildungspolitische Positionen bezogen. Und gemeinsam
mit den anderen musikpädagogischen Verbänden – ich
nenne stellvertretend für alle den AfS, die DOV und den VdM – konnten
wir erfolgreich vermitteln, dass musikalische Bildung ein existentielles
Gut für uns Menschen ist, dass Musikerziehung bedeutsam und
ein integraler Bestandteil unseres Bildungsauftrages ist – ja,
dass Musik Bildung ist. Diese Position bleibt aus meiner Sicht
unaufgebbar: Wir wollen die Bedeutsamkeit dieser Position weiter
herausstreichen und sie – das ist das Entscheidende – auch
in der Praxis immer mehr durchsetzen. Es gibt viele Erfolg versprechende
Ansätze. Dennoch bleibt im Detail der Eindruck, dass der stärkste
Kultus- oder Schulminister schwächer ist als der schwächste
Finanzminister.
Ganz wichtig für die Zukunft bleibt die intensive Pflege der
musikpädagogischen Arbeitsfelder: In den Kindergärten,
den Kindertagesstätten, den Familienzentren, der Grundschule,
den Förderschulen und allen anderen Schulformen bis hin zu
einem lebenslangen musikalischen Lernen. Verstärken möchte
ich in Zukunft das Teamwork-Verfahren zwischen dem Bundesvorstand
des VDS und den verschiedenen Landesverbänden. Das ist insofern
eine Herausforderung, als der VDS föderal aufgebaut ist. Dies
bedeutet auch, dass wir nicht schablonenhaft vorgehen können
und Vorgehensweisen, die in einem Land oder in einer Region funktionieren,
einfach allerorts übertragen. Dennoch: es müssen gemeinschaftlich
Grundpositionen formuliert und vertreten werden. An erster Stelle
steht hier die Forderung nach kontinuierlichem Musikunterricht.
In diesem Zusammenhang wird die Kommunikation innerhalb und außerhalb
des Verbandes immer bedeutsamer. Hierbei soll in Zukunft die Homepage
des VDS eine ganz entscheidende Rolle spielen. Dafür setze
ich auf die hohe Kompetenz aller Mitarbeiter im Bundesvorstand.
Und schließlich liegt mir sehr am Herzen, junge VDS-Mitglieder
zu gewinnen und sie zur Mitarbeit im Verband zu motivieren. Zwar
ist als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu beobachten, dass
man sich weniger in Verbänden, Kirchen, Parteien und Vereinen
binden möchte. Wenn wir aber unserer Zielgruppe vermitteln
können, dass der VDS konkret etwas für sie tut, gewinnen
wir sie auch als motivierte Mitstreiter.
nmz: Der VDS formuliert auf seiner
Website eine Reihe von Zielen. Hat sich denn Ihrer Einschätzung nach ein Ziel schon so weit
erfüllt, dass man das Engagement in diesem Bereich zurückfahren
oder gar einstellen kann? Nimczik: Nein, leider können wir uns bei keinem Aspekt gemütlich
zurücklehnen. Nehmen Sie nur das Beispiel der Musikerziehung
in den Kindergärten. Schon Leo Kestenberg hat in den 1920er-Jahren
die Defizite ganz konkret beschrieben. Die schulpolitischen Entscheidungsträger
laborieren freilich noch immer an dieser Problematik. Von Verbandsseite
fordern wir dringend eine Verbesserung der musikpädagogischen
Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Sie muss elementarer
Bestandteil dieses Berufsbildes werden, so wie auch die Praxis
des Singens und Musizierens ihren festen und professionellen Ort
in dieser Ausbildung haben muss.
Nehmen Sie nun zweitens die Grundschulen: Die Zahlen, die öffentlich
vor liegen, besagen, dass im Bundesdurchschnitt nur etwa 20 bis
30 Prozent des Musikunterrichtes von Fachpersonal gegeben wird.
Sicherlich gibt es Grundschulpädagogen, die mit den Kindern
singen – es geht jedoch um viel mehr: Musikunterricht muss
von Anfang an perspektivisch, das heißt aufbauend angelegt
sein. Es geht darum, Zusammenhänge herzustellen. Wir brauchen
viel mehr gut ausgebildete Musiklehrer für den Grundschulbereich. Übrigens:
Stellen Sie sich den Grad von Entrüstung vor, wenn Eltern
erfahren würden, dass
der Mathematikunterricht nunmehr vom Geschichtslehrer erteilt wird!
Leider fehlt uns im Musikbereich in der Elternschaft eine entsprechende
Lobby. Die Öffentlichkeit ist fixiert auf die so genannten „harten“ Fächer.
nmz: Welche Einwirkungsmöglichkeiten sieht hier der VDS? Nimczik: Es geht nicht darum, Musik im falschen
Sinne als „hartes“ Fach
zu etablieren. Es ist aber auch kein Nebenfach oder gar ein Neben-Neben-Fach
mit kompensatorischer Bedeutung. Wir möchten das Bewusstsein
schärfen, dass Musikunterricht ein Bestandteil unserer allgemeinen
Bildung ist und zentrale Alleinstellungsmerkmale hat. Musikunterricht
vereint sowohl Erlebnis- als auch Ausdrucksfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit
und Rationalität. Musikunterricht stellt den Menschen in lebendige
Kulturzusammenhänge, er leistet einen Beitrag zur Identifikation,
bündelt emotionale, soziale und kognitive Qualifikationen
und erzieht zur Kreativität, fördert Teamfähigkeit,
Lösungsorientiertheit sowie ganz besonders Sensibilität
im auditiven Bereich.
nmz: Wie muss ein Verband im 21.
Jahrhundert aufgestellt sein? Nimczik: Lassen Sie mich die Zukunftsfähigkeit mit dem Begriff „Kooperierende
Systeme“ beschreiben und betrachten wir die Lehrer, die jetzt
im Schuldienst sind. Sie haben Ausbildungen erhalten, die zu einem
großen Teil noch von nicht-kooperierenden Systemen ausgingen.
So muss man folglich einen Blick auf die Ausbildungsinstitute werfen:
Wie werden Studenten an den Musikhochschulen auf die spätere
Praxis vorbereitet? Künftig müssen die Grenzen, die wir
bisher zwischen musikpädagogischen Studiengängen hatten,
neu überdacht werden und an vielen Stellen halte ich sie auch
für überflüssig.
nmz: Womit beschäftigen Sie sich als Bundesvorsitzender des
VDS aktuell? Nimczik: Momentan nimmt die Vorbereitung der 27.
Bundesschulmusikwoche im September 2008 in Stuttgart einen großen Teil meiner Zeit
ein. Hier arbeiten wir ganz eng mit dem VDS-Landesvorstand Baden-Württemberg
zusammen. Daneben planen wir die bundesweite 11. VDS-Fachleiter-Tagung.
Sie
wird vom 19. bis 23. November 2007 in Celle stattfinden und ist
dem Thema „Aufbauender Musikunterricht“ gewidmet. Last
but not least stecke ich zusammen mit meinem Stellvertreter Markus
Köhler in den Vorbereitungen zu einer VDS-Zeitschrift, die
ab November 2007 der nmz beiliegen wird. Zweimal im Jahr soll künftig
aus VDS-Sicht über musikpädagogische Aufgabenstellungen
und Perspektiven informiert werden, wir möchten Positionen
einander gegenüber stellen und Diskussionen anregen. Die Verbreitung
derartiger „Transpositionen“ über die nmz ist
aufgrund ihrer heterogenen Zielgruppe und hohen Auflage eine ideale
Chance, bundesweit musikpädagogische Präsenz zu zeigen.
nmz: Und wie lautet Ihr Wunsch
für die Zukunft des Musikunterrichts? Nimczik: Ich erlaube mir an dieser Stelle, zwei
Wünsche zu äußern.
Zunächst möchte ich junge Leute dazu bewegen, den gleichermaßen
schwierigen wie interessanten Musiklehrerberuf zu ergreifen. Musiklehrerinnen
und -lehrer werden gebraucht! Ich wünsche mir des Weiteren
einen Musikunterricht, den Schüler und Lehrer lebendig und
kreativ miteinander gestalten. Vor einiger Zeit stand ich wieder
einmal vor einem Aquarell von Paul Klee aus dem Jahre 1930, das
in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf zu betrachten ist.
Es trägt den Titel „Hat Kopf, Hand, Fuß und Herz“.
Dieses Bild steht für mich modellhaft für die Vision
eines modernen Musikunterrichts: Musikunterricht braucht Hand und
Fuß, das heißt er muss bodenständig sein, den
gesamten Körper, die (musikalische) Bewegung und Handlung
umgreifen. Musikunterricht braucht Herz, also Zentrum, Emotion
und Gefühl. Er benötigt gleichfalls auch den Kopf, also
Verstand und Rationalität. Die Interdependenz all dieser Komponenten
macht den Menschen aus, genau das will das Kleesche Bild uns sagen.
Also: „Hat Kopf, Hand, Fuß und Herz“ – das
ist die Zukunft des Musikunterrichts an unseren Schulen.