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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 35
51. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Berlin Gastgeber europäischer Jugendorchester
Vorschau auf den dritten Musiksommer von young.euro.classic
Die europäischen Länder bewegen sich aufeinander zu. Sie bringen in die wachsende Gemeinsamkeit
eine Vielfalt und einen Reichtum an Kultur ein, unabhängig von ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen
Verfassung. In der Kultur, besonders in der Musik, liegt eines der starken Potenziale für die europäische
Zukunft. Dieses Grußwort für den Europäischen Musiksommer Berlin 2002 stammt nicht von
einem Staatsmann, sondern von einem Musiker: von Maxim Vengerov. Im europäischen Einigungsprozess sind
Künstler manchmal sogar die besseren Diplomaten. Der russische Stargeiger weiß, warum die deutsche
Hauptstadt der geeignete Ort für ein solches Jugendorchestertreffen ist: Die junge Generation trifft
sich in Berlin, das einst ein Sinnbild für die Spaltung Europas war und heute im Brennpunkt der deutschen
und europäischen Vereinigung steht. Der heute in Saarbrücken lehrende Vengerov wird im August
mit einem Orchester gastieren, das diesen Einigungsprozess beispielhaft vorführt, spielen doch im SaarLorLux-Kammerorchester
junge Musiker aus einst verfeindeten Regionen, dem Saarland, aus Lothringen sowie Luxemburg, harmonisch und
produktiv zusammen.
young.euro.classic 2001: Das Bundesjugendorchester. In diesem Jahr gestaltet
das BJO das Abschlussskonzert. Foto: YEC
Das jetzt zum dritten Mal durchgeführte Festival versteht sich im Politischen wie im Künstlerischen
als Wegbereiter, als Avantgardist, und führt damit das Vorjahresmotto Öffnungen Grenzerweiterungen
fort. Die Gäste dieses Sommers stammen nicht zuletzt aus solchen Ländern, deren Mitgliedschaft in
der Europäischen Union noch unsicher ist. Wenn gerade das Symphonieorchester des Staatskonservatoriums
Ankara den Auftakt macht, erinnert dies aber nicht nur an den Wartestand der Türkei im europäischen
Einigungsprozess, sondern auch an Paul Hindemith und Eduard Zuckmayer, die in den 30er-Jahren in Ankara unterrichteten
und von dort aus das türkische Musikleben im europäischen Sinne reformierten. Umgekehrt ist Berlin
heute nach seiner Einwohnerzahl die zweitgrößte türkische Stadt hinter Istanbul.
Mit Lettland, Estland, Litauen und der Ukraine sind weitere Staaten Osteuropas durch ihre Jugendorchester
vertreten. Sie haben nach 1989 die politische Unabhängigkeit von der Sowjetunion errungen, wobei die Eigenständigkeit
von Sprache und Kultur eine wesentliche Rolle spielte. Thomas Roth, zuletzt Moskau-Korrespondent der ARD, erwähnte
auf der Pressekonferenz die mit dieser Loslösung verbundenen wirtschaftlichen Probleme. Obwohl viele Musiker
an die Armutsgrenze herabsanken, könne die Kunst manche Probleme überbrücken. Roth, demnächst
Leiter des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, hat denn auch gerne die Patenschaft für das Symphonieorchester
der Litauischen Musikakademie übernommen. Kein Geringerer als David Geringas wird der Solist sein, wenn
dieses Orchester am 11. August ein neues Cellokonzert des Litauers Anatolijus Senderovas zur Uraufführung
bringt.
Dass die fünfzehn jeweils von einem prominenten Paten präsentierten Orchester (auch aus Spanien,
Griechenland, Frankreich, Italien, Norwegen, Belgien und Deutschland) neue Werke aus ihrem Land vorstellen,
gehört zur Programmatik des Musiksommers. Dabei kommt es zu einem stilistisch wieder sehr breiten Spektrum
des Zeitgenössischen. Zur ansehnlichen Reihe von neun Uraufführungen zählt Valentin Silvestrows
Symphonie Nr. 6 mit dem Orchester der Tschaikowsky-Musikakademie Kiew, ein Orchesterwerk Eriks Esenvalds mit
dem Symphonieorchester der J. Vitols Musikakademie Lettland und Angor von Rolf Urs Ringger mit dem
Schweizer Jugend-Symphonie-Orchester. Eine Publikumsjury wird anschließend eines der neuen Werke mit dem
Europäischen Komponistenpreis auszeichnen.
Dieter Rexroth, der künstlerische Leiter des Festivals, hat darüber hinaus dafür gesorgt, dass
die Klangkörper weitere Werke aus ihrem Kulturbereich zur deutschen Erstaufführung bringen. Das Schleswig-Holstein
Musikfestival Orchester tritt trotz seiner internationalen Besetzung mit einem Spanien-Schwerpunkt auf; Cristóbal
Halffter dirigiert zwei eigene Werke sowie, mit dem Solisten Homero Francesch, die Nächte in spanischen
Gärten von Manuel de Falla. Diese Komposition gehört zu den Klassikern der Musik des 20. Jahrhunderts
wie Strawinskys Feuervogel, das 1. Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch, wie die Symphonien
von Mahler und Sibelius, Albert Roussels Suite Bacchus et Ariane, Olivier Messiaens Les oiseaux
exotiques oder Alfred Schnittkes nicht minder anspruchsvolles Concerto Grosso Nr.4. Sie sind Bestandteil
eines heute schon den meisten Staaten Europas gemeinsamen Werkkanons. Ganz im Sinne des künftigen Europa
verknüpft das Musikprogramm so das Individuelle der jeweiligen Nation mit übergreifenden Werten.
Das mehr denn je von Sparzwängen gebeutelte Berlin, das sogar den Wettbewerb Jugend musiziert
nicht mehr finanzieren kann, profitiert von diesem auf die private Initiative eines Freundeskreises zurückgehende
Festival. Neben Partnern aus der Wirtschaft hat sich die Europäische Kommission und der Hauptstadtkulturfond
an der Finanzierung beteiligt. Aber auch die Botschaften der einzelnen Länder tragen durch Empfänge
zum Gelingen bei. Man darf davon ausgehen, dass das Konzerthaus am Gendarmenmarkt vom 2. bis 18. August wieder
ein begehrter Treffpunkt von Musikfreunden aus ganz Europa sein wird.