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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 51-52
51. Jahrgang | Mai
Dossier: Musik und nationale Identität
Einig Vaterland, aber viele kulturelle Identitäten
Koproduktion von Bayern2Radio und MDR Kultur: contrapunkt befragt Künstler aus Ost und West
Manfred Wagenbreth: Ich heiße Sie willkommen zu einer weiteren Folge von contrapunkt.
Dies ist eine Sendung von Bayern2Radio, dem Kulturkanal des Mitteldeutschen Rundfunks MDR Kultur und dem Goetheforum,
aus dessen Saal in München wir uns heute melden. Wir wollen gemeinsam über das Thema Wohlstand
contra Widerstand diskutieren, ein Thema, das in der Musik immer wieder die Geister bewegt. Wir haben
es ebenso schmissig wie möglicherweise leichtsinnig über diese Folge geschrieben, und es erschien
uns durchaus interessant, nachzufragen, woran sich engagierte Musiker und Liedermacher zu Zeiten zweier deutscher
Staaten rieben und wie die Dinge im geeinten Deutschland stehen.
Theo Geißler: Wozu, um Himmels willen, heutzutage Widerstand, wo uns das Wasser des Wohlstandes
bis zum Halse steht. Das ist ein Zitat von Heinz Rudolf Kunze. Tun wir nicht viel besser daran, gemeinsam
an einem Strang zu ziehen in Zeiten terroristischer Bedrohung und in Zeiten sinkender Aktienkurse speziell beim
Neuen Markt? Außerdem: Widerstand wozu, nachdem angeblich alles, was zusammenwachsen sollte, inzwischen
zusammengewachsen ist? Wir haben entsprechende Experten eingeladen und wir hoffen auf Antworten aus Ost und
West. Da ist zunächst Steffen Schleiermacher, 1960 in Halle an der Saale geboren. Trotz seines für
Komponisten noch jugendlichen Alters hat er sich inzwischen in der Neuen-Musik-Szene etabliert, nicht nur als
Komponist, sondern auch als Pianist und als Leiter eines Ensembles für Neue Musik. Steffen Schleiermacher,
als Sie 1986 nach Darmstadt fuhren zu den Internationalen Kursen für Neue Musik, war das für Sie damals
eine Offenbarung?
Steffen Schleiermacher: Eine Westreise war immer eine Offenbarung, gerade mit 26 Jahren, aber es war
nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte. Man hatte so seine Illusionen über die mythischen Zeiten in
Darmstadt, über ein Miteinander, ein Forschen nach neuen Klängen und Kompositionsmethoden. Dieser
Mythos Darmstadt aus den 50er- und 60er-Jahren existierte in den 80er-Jahren schon lange nicht mehr, das war
mehr Messe: jeder versuchte, sich irgendwie zu präsentieren ein Marktplatz der modernen Eitelkeiten.
Das hat mich ein bisschen enttäuscht, aber ich war auch sehr eitel.
Wagenbreth: Mit Preisen und Auszeichnungen reich bedacht ist auch unser nächster Gast, Gerhard
Stäbler. Er kam in Ravensburg zur Welt und studierte in Detmold und Essen Komposition und Orgel. Er hat
sich beteiligt an den sozialen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet, er gastierte und lehrte in Skandinavien,
im Libanon, in Nord- und Südamerika sowie in Korea.
Den Müllfahrern von San Francisco hieß das Werk, aus dem wir vorher einen Ausschnitt
hörten. 1989 entstanden und gewiss doch mehr entstanden als Huldigung an potenzielle Verbündete im
Widerstand gegen Sozialabbau und Globalisierung. Gerhard Stäbler: Dieses Stück ist eine Auseinandersetzung zweier Kulturen. Ich war in den 80er-Jahren
zunächst eher aus zwiespältigen Gefühlen heraus oft in den USA und empfinde nun Kalifornien als
meine zweite, jetzt meine dritte Heimat. Im Zusammenhang mit Aufenthalten am Computermusikzentrum in Stanford
habe ich mich sehr intensiv mit der dortigen Kultur auseinander gesetzt, auch diskutiert, und kam in Berührung
mit sehr vielen unscheinbaren politischen Dingen. In der Zeit Mitte der 80er-Jahre wollte Reagan mit den Star
Wars beginnen und hat angefangen, Nicaragua mehr oder weniger offen anzugreifen. So etwas ist unter anderem
im Stück virulent vorhanden, und gleichzeitig vollzieht sich eine Diskussion zwischen meinem kulturellen
Hintergrund und der Musik im amerikanischen Westen, die hauptsächlich von minimal music geprägt war.
Geißler: Unser nächster Gast, Stephan Krawczyk, begann seine musikalische Karriere in der
Folk-Szene der DDR. Er sang nicht nur das klassische Repertoire der Folkies, sondern er kümmerte sich um
Texte, die sich konkret mit den Widersprüchen des real existierenden Sozialismus auseinander setzten, mit
den fast schon zwangsläufigen Folgen und Schikanen: 1987 Auftrittsverbot und dann die nicht ganz freiwillige
Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland kurz danach. Heute lebt er, nach wie vor Liedermacher, in Berlin.
Außerdem begannen Sie eine Karriere als Buchautor?
Stephan Krawczyk: Ich schreibe gerade einen Roman über diese Zeit, weil mein Agent mir sagte,
das wäre vielleicht das Thema, das die Menschen am meisten interessieren würde. Ich habe schon einen
Roman geschrieben über meine Kindheit. Er heißt Das irdische Kind und spielt in der DDR.
Zurzeit schreibe ich ein Buch unter dem Arbeitstitel Der irdische Mann, also befinde ich mich ständig
in der Zeit vor 1989.
Wagenbreth: Heute abend hier bei uns auch Heinz Rudolf Kunze. Einen Ruf in Fankreisen hatte unser letzter
Gast nicht nur in der damaligen DDR, aber auch dort schon längst, als er 1987 erstmals dort leibhaftig
gastierte. Ich entsinne mich an ein durchweichtes Konzert, bei dem Menschen im Schlamm standen und eine Begeisterung
herrschte, wie ich sie selten erlebt habe. Das Publikum hat ihm die Treue gehalten bei seinen intelligenten
Pop-Projekten wie bei seinem sturen Beharren darauf, es gäbe eine Schwelle von Moral und Anstand, die nicht
unterschritten werden dürfte. 22 Alben hat er seit 1981 veröffentlicht, falls wir richtig gezählt
haben; das letzte erschien unlängst im Monat Februar und heißt: Wasser bis zum Hals steht mir.
Verfolgt man Ihre Lieder, dann gewinnt man den Eindruck, das mit der Gewöhnung an die Dinge hat wohl keine
sonderlichen Fortschritte gemacht über die Jahre?
Heinz-Rudolf Kunze: Freut mich, dass Sie das so sagen. Es gibt andere Leute aus der Pop-Abteilung oder
aus der geläufigen Presse-Abteilung, die sagen, das sei nicht mehr so und ich hätte mich an Dinge
gewöhnt. Ich sehe es ähnlich wie Sie.
Geißler: Herr Krawczyk, in der DDR seinerzeit war das Feindbild für einen kritischen Liedermacher
wahrscheinlich viel enger und viel schärfer. Fiel es nicht viel leichter, da in den Protest zu gehen?
Krawczyk: Ich hatte damals einen Dichter, der für mich schrieb. Als der aufhörte, war ich
gezwungen selbst zu schreiben. In dem Zusammenhang war es für mich sehr leicht, sehr direkte Themen zu
finden. Durch den Mauer-Wegfall oder durch meine andere Existenz im anderen Land gab es ja genauso politische
Themen, die auch genauso direkt artikuliert werden konnten. Ich hatte damals ein Lied gemacht gegen die Produktion
von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, als ich in der real existierenden Demokratie angekommen war. Aber das Lied
war die Folge einer Initiative zum Sofortverbot von FCKW, und es war seit 1969 bekannt, dass das schädlich
ist. Und diesem vernünftigsten System der Welt war es immer noch nicht gelungen, das zu stoppen. Ich habe
selbst Kinder und sammelte dann 300.000 Unterschriften mit vielen Menschen, die sich dahinter gestellt haben,
hinter diesen für meine Begriffe vernünftigen Willen. Die Initiative bekam den Bundespostpreis, weil
wir in der Geschichte der Bundesrepublik das meiste Porto eingespielt hatten.
Geißler: Lassen Sie uns noch einen Moment in der alten DDR bleiben. Noch einmal die Frage: War
es nicht leichter, weil ganz einfach die Angriffsflächen präziser waren?
Krawczyk: Nein, das war nicht leichter. Es war eher schwerer, sonst hätten es nämlich alle
gemacht. Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass meine Mutter immer gesagt hat: Du sollst
nicht lügen, du sollst den Leuten die Wahrheit sagen. Wenn ich dann auf der Bühne stand
mir wurden ja Lieder verboten vom stellvertretenden Kulturminister persönlich , dann dachte ich:
Was soll der mir Lieder verbieten!
Wagenbreth: Herr Stäbler, haben Sie als bundesdeutscher Linker damals die Dissidentenszene in der
DDR wahrgenommen?
Stäbler: Ich hatte mit Freunden zusammen Ende der 70er-Jahre ein Kulturmagazin Linkskurve
gegründet, das sich bewusst in eine Tradition zur Weimarer Republik stellte, und Anfang der 80er-Jahre
führten wir auch Diskussionen über gesamtdeutsche Themen. Dann gab es west-östliche Schriftstellertreffen.
Beim zweiten war ich dabei als Korrespondent der Linkskurve. Der Roman von Christa Wolf, Kassandra,
kam gerade heraus, und wir hatten eine breite Diskussion über diesen Roman. Sie muss der damaligen DDR
missfallen haben. Als ich ein halbes Jahr später wieder nach Ostberlin wollte, weil ich Wieland Herzfelde
besuchen wollte, der schon hochbetagt war, aber trotz seiner Prominenz wieder von der Stasi beobachtet wurde
(und auch weil er viele Westkontakte hatte), wurde ich nicht mehr hereingelassen.
Wagenbreth: Herr Krawczyk, gab es Momente, wo Sie als Dissident in der DDR als kritischer widerständischer
Liedermacher gerne mehr Solidarität aus dem Westen gehabt hätten?
Querdenker-West und Querdenker-Ost: Heinz-Rudolf Kunze (oben) und Stephan
Krawczyk. Foto: Nina Hornung/BMW
Krawczyk: Eigentlich nicht. Die einzige Solidarität, die für mich große Bedeutung hatte,
war diese Berücksichtigung durch die Journalisten, die in der DDR akkreditiert waren. Dadurch war ich vielleicht
in gewisser Weise bekannt, sodass mir allzu schlimme Dinge nicht passiert sind. Im Nachhinein hat Freya Klier,
mit der ich damals zusammen war, die Akten studiert und herausgekriegt, dass wir 80 Spitzel in unserem Umfeld
hatten. In der Weise hat man sich schon gewünscht, vielleicht auch mehr Freunde zu haben aber in
der DDR. Die gab es aber dann auch. Nur ein Kontakt hat noch über diesen Wechsel in den Westen hinaus gehalten:
Ich wollte mal in Wackersdorf ein Lied singen (die FCKW-Initiative stand da gerade am Anfang) über Ozonloch
und Butterberg, und Flugblätter verteilen, um möglichst viele Unterschriften zu bekommen. Ich durfte
nicht auf die Bühne. Zehn Jahre später erzählte mir ein Journalist, der jetzt bei der Super-Illu
arbeitet, dass das damals von der DKP verhindert worden ist. So lang war der Arm der Stasi und der SED.
Wagenbreth: Herr Kunze, in Ihren Liedern kommt das Thema DDR explizit nicht vor, obwohl Sie ja enge
familiäre Beziehungen dorthin haben. War das für Sie ein Randthema, etwas, das Sie ausklammern wollten?
Kunze: Es stimmt, dass meine familiären Wurzeln zu 100 Prozent in Brandenburg liegen, aber ich
bin komplett im Westen aufgewachsen und wollte mir da auch nicht anmaßen, über Dinge zu reden, die
man selbst erfahren muss, um sich darüber wirklich äußern zu dürfen. Trotzdem habe ich
das Erlebnis haben dürfen, dass die Leute dort viele Dinge, die ich gesagt habe, auf sich bezogen haben
und damit sehr intensiv umgegangen sind. Es war ja eine riesige Verblüffung für mich, ab 1987 festzustellen,
wie viel von meinem Zeug, das auch nicht in Radio oder Fernsehen gelaufen war, dort bekannt war, und was die
Menschen sich gospelartig zu Eigen gemacht hatten.
Geißler: Herr Schleiermacher, Sie haben sich Mitte der 80er-Jahre um griechische Mythen gekümmert
als Komponist, wohlgemerkt. War Ihnen die politische Realität egal?
Schleiermacher: Ein Stück von mir heißt Kreon, das ist eine Hommage an Edgar
Varèse; Kreon ist die Gestalt, die immer um sich selber kreist, immer alles befehlen will, aber eigentlich
nichts zu sagen hat, aber trotzdem dieses Nichts durchsetzt.
Geißler: War das eine politische Metapher?
Schleiermacher: Ich fand es eher ein Problem, das musikalisch darzustellen: immer um etwas zu kreisen,
immer auf etwas zu beharren, ohne ständig das Gleiche zu sagen. Manche Leute fragten mich dann, ob ich
damit das Politbüro der DDR komponiert hätte. Ich fühlte mich gleich als Dissident; daran hatte
ich überhaupt nicht gedacht.
Wagenbreth: Man kommt ja ins Widerstehen, wenn man in seinen Lebenswegen gehindert wird, Dinge zu tun,
die man für richtig hält. Ist Ihnen so etwas passiert mit Ihrer Musik?
Schleiermacher: Hier ist DDR nicht gleich DDR. In den 50er- und 60er-Jahren waren es eher Hardcore-Zeiten,
da wurde Bartók verboten, Strawinsky durfte nicht gespielt werden, Leute wurden von den Hochschulen entfernt,
weil sie Stücke von Schönberg unterrichtet haben. Das habe ich live so nicht erlebt. In den 80er-Jahren
war das alles nur noch aus Pappmaché: Man konnte eigentlich spielen, was man wollte, es hat eh keinen
interessiert. Wenn man jedoch vorhatte, ein Stück mit Text zu komponieren, musste man den Text in Dreifach-Ausfertigung
zur Zensur abgeben.
Wagenbreth: Stephan Krawczyk und Steffen Schleiermacher, war Ihnen der Blick vom Osten in den Westen
ein Thema sei es als Vorbild, sei es als abschreckendes Beispiel?
Krawczyk: In meiner Branche hat man das natürlich wahrgenommen, Konstantin Wecker, Heinz Rudolf
Kunze und Hannes Wader. In dieser Art und Weise waren die im Westen ja auch vor uns. Die Liedermacherbewegung
gab es im Westen schon früher, und wenn man da eine Platte gehört hat, war man schon offenen Ohres.
Als Herman van Veen im Palast der Republik spielte, fuhr ich von Gera dorthin, um den mal live zu sehen. Ob
mich das nun beeinflusst hat, kann ich nicht sagen, aber es gehörte doch dazu, über die Mauer zu gucken,
abgesehen davon, dass eben der Westen mit der Truman-Doktrin doch die ganze Zeit in den Osten gestrahlt hat.
Wagenbreth: Ist Ihnen das noch im Bewusstsein, Herr Schleiermacher?
Schleiermacher: Ja, das ist nicht anders als heute. Natürlich interessiert mich, was die Kollegen
machen. Es beeinflusst mich, manchmal willentlich, manchmal unwillentlich, aber nicht im Sinne einer Vorbildfunktion.
Natürlich musste man aus diesem winzigen Suppenteller DDR nach draußen gucken, sowohl nach dem Westen
als auch nach dem Osten; im Osten gab es in Russland nicht so wahnsinnig viel zu sehen, in Polen gab es schon
mehr. Das ist heute nicht anders; ich nehme die Dinge noch genauso selektiv wahr.
Geißler: Peter Gülke, der Dirigent, hat in der allerersten contrapunkt-Sendung
die schöne Formel gefunden: Eine Achtelnote im Osten ist eine Achtelnote, und im Westen ist es auch
eine Achtelnote. Das hat er am eigenen Leibe erfahren, als er von Weimar nach Wuppertal umzog oder umziehen
musste. Musik, wenn sie entsteht, klingt eigentlich erst mal grundsätzlich unpolitisch.
Schleiermacher: Zu der Achtelnote von Peter Gülke fällt mir ein schöner Schwank aus meiner
Jugend ein. Wir lernten den Satz des Pythagoras in der Schule, und es war dann in jeder Stunde das so genannte
rote Schwänzchen erforderlich, also den aktuellen politischen Bezug des eben Gelernten sofort herzustellen
und anzuwenden. Wir hörten einen Vortrag über den Missbrauch des Satzes des Pythagoras im Imperialismus.
Eine Achtelnote wird natürlich im Imperialismus missbraucht gegen die Arbeiter, und im Sozialismus ist
die gleiche Achtelnote nicht die gleiche, sondern sie wird ja zum Wohle der Arbeiter gebraucht. Also ist Achtelnote
nicht gleich Achtelnote, zumindest nicht soziologisch betrachtet. Spaß beiseite: Es ist die Frage, was
ist politische Musik? Es ist ja noch lange nicht religiöse Musik, was einen frommen Text vertont. Auch
bei politischer Musik wird, sobald kein Text dabei ist, die Sachlage relativ schwierig. Es gibt politische Musik,
aber die würde man nie als solche wahrnehmen. Bestimmte Stücke von John Cage sind politisch, weil
das der blanke Anarchismus ist. Anarchismus bedeutet ja, dass jeder für alles zuständig ist, und nicht,
dass niemand für irgendetwas zuständig ist. Das hat Cage auf die Spitze getrieben: dass er als Komponist
auch Hörer, Interpret, alles war und daher gleichwertig war bei der Produktion dieses Musikstückes.
Das ist eine Form des politischen Ansatzes; das hört man dem Stück eigentlich nicht an, das ist also
eher ein soziales Projekt. So gibt es also bestimmte Verweigerungsstrategien, wie Lachenmann oder Ähnliches,
das ist auch ein Politikum, dass die irgendetwas verweigern, einen schönen Klang und so weiter, man würde
es aber nicht als politische Musik betrachten in dem Sinne, dass klare Aussagen für oder gegen etwas gemacht
werden, und schon gar nicht als Protest gegen irgendetwas. Was bin ich selber, wenn ich immer etwas brauche,
woran ich mich reiben kann?
Stäbler: Zu einer bestimmten Zeit war das schon Protest, und es gab auch direkte Adressaten. Ich
denke zum Beispiel an mein Schreistück, das war auch Protest. Da wurde unter anderem ein ganz alter Text
verwendet, ein Zitat von Hans Leo Hassler, sogar ein christlicher, der dann überdreht und selbst zum Schrei
wurde. Es wurde sofort als politisch klassifiziert, auch innerhalb der Avantgarde. Wenn diese direkte Konfrontation
weg ist, sucht man nach anderen Ebenen, und dann fällt zuerst dieser oberflächliche Protest weg, und
man fragt, was ist in der musikalischen Struktur als politisch vorhanden. Ich denke schon, dass man bei Cage
noch die Anarchie in den musikalischen Strukturen hört.
Geißler: Sind denn von den DDR-Komponisten tatsächlich nur diejenigen übrig geblieben
in unserer schönen neuen Wohlstands-Zeit, die so viel Substanz hatten, dass sie es verdient haben?
Schleiermacher: Grundsätzlich spielen von den vielen Komponisten, die sich die DDR geleistet hat,
nur noch fünf oder sechs eine Rolle im Musikleben, und es waren 200 oder 300. Das hat etwas mit Marktmechanismen
zu tun, auch mit Musik und Politik, warum wer wann plötzlich nicht aufgeführt wird, warum wer wann
keine Stellen, keine Rundfunksendungen mehr kriegt. Das Terrain ist abgeteilt gewesen und ist es noch immer.
Wagenbreth: Herr Kunze, ich glaube, Sie haben sich nie direkt als Protest-, Widerstands- oder politischer
Sänger bezeichnet; trotzdem sind die Themen für Sie alle wichtig. Haben Sie ein Verständnis für
das, was Sie Ihre Politik oder die Politik Ihrer Lyrik nennen?
Kunze: Sich Protestsänger zu nennen, bringt einen nicht wesentlich weiter. Es hilft nicht dabei,
Menschen zu erreichen, weil die meisten Menschen sich dann angeekelt abwenden. Dass solche Fragen wie Außenwelt,
Weltgeschichte, deutsche Geschichte, Ost-West irgendwann in Lieder einfließen, ist gar nicht zu vermeiden,
wenn man versucht, alles aufzuschreiben oder zu vertonen, was einem in den Sinn kommt. Es gab schon einen Unterschied
bei den Hörgewohnheiten: Das Publikum im Osten war etwas Besonderes, weil es so ungeheuer geschult war,
aufmerksam zwischen den Zeilen zu hören. Aber wenn man mehr Leute ansprechen will, geht es einem schon
um eine möglichst große Massenbasis. Sie könnte noch größer sein, aber sie ist da.
Man will die Leute erst mal dazu bringen, ein paar Knochen zu bewegen, und über diese Anteilnahme vielleicht
etwas aufmerksamer zuzuhören. Geißler: Solche Formen etwas dämlicher Zensur sind wir Gott sei Dank los. Herr Schleiermacher
hat in einem Halbsatz eine ganz neue Form von Ästhetikkontrolle angesprochen: den Markt. Der Markt schafft
Klarheit über das, was gut oder schlecht ist. Habe ich das richtig verstanden?
Schleiermacher: Das habe ich nicht gesagt und möchte es auch weit von mir weisen, weil es nicht
den Tatsachen entspricht.
Geißler: Aber Sie sprachen gerade davon, dass bestimmte ehemalige DDR-Komponisten vom Markt wegreguliert
worden sind.
Schleiermacher: Der Markt ist ja kein Naturphänomen. Am Anfang in der Wende-Euphorie ging das
noch ganz gut; da ist sogar Friedrich Goldmann zum Präsidenten der Gesellschaft für Neue Musik gewählt
worden. Diese Zeit ist aber schon lange vorbei, und es gibt ganz wenige aus dem Osten, die sich so weit etabliert
haben (und da zähle ich nicht dazu), dass sie als ganz normale Komponisten akzeptiert werden, die bei den
üblichen Festivals gespielt werden. Und die Rundfunkanstalten im Osten inklusive MDR haben entweder keine
Lust oder kein Geld, Aufträge zu vergeben und zu produzieren vom ORB ganz zu schweigen. Die Förderung
von Neuer Musik, was Komposition, was große Orchester angeht, findet weiterhin im Westen statt. Donaueschingen-Chef
Armin Köhler, selbst aus Dresden stammend, sagt ja, er wolle keine Seilschaften; solange er in Donaueschingen
ist, werde dort nie ein Ost-Komponist gespielt werden. Das gibt mir zu denken, das ist vorauseilende Anpassung.
Geißler: Auch Herr Kunze hat quantitativ argumentiert, obwohl er sich ja hier als sehr moralischer
Liedermacher ausgewiesen hat. Er braucht, um seine aufwändigen Produktionen herstellen zu können,
einfach eine bestimmte Menge an Publikum, an verkauften Platten. Inwieweit beeinflusst das dann die Manufaktur
Ihrer Geschichten?
Kunze: Es sind schon andere Bandagen, ob man mit Ligeti konkurrieren muss oder mit Dieter Bohlen. Inwieweit
das den Vertrieb und das Marketing betrifft, entzieht sich weitgehend meiner Kenntnis; das macht ja ein großer
amerikanischer Konzern, für den ich seit 21 Jahren als Legionär arbeite. Da gibt es Fachleute, die
können das, und da halte ich mich weitgehend raus. Ich liefere denen etwas an und muss allerdings tatsächlich
zur Ehre dieser Company sagen, dass die mich 21 Jahre an einer sehr langen Hofnarren-Leine haben laufen lassen
und ich dort eben in der Popliteraten-Ecke einige Stürme überwintern durfte. Ich kann mich eigentlich
nicht beklagen. Ich bin kein Kronzeuge gegen die Industrie.
Wagenbreth: Herr Krawczyk, Ihnen geht es nicht so. Ihnen rollt keine Industrie einen Teppich aus.