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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 48
51. Jahrgang | Mai
Dossier: Musik und nationale Identität
Musik und die Konstruktion von Gemeinschaft
Individuelle Freiheit und Gemeinsamkeit: Zum Verhältnis von Musik und Publikum · Von Reinhard
Olschanski
Das Versprechen: Youll never walk alone, das die Fußballfans in chorischer Form zusammenführt,
enthält ein Paradox. Das oft nach verlorenen Spielen gesungene Lied ist ein Wechsel auf die Zukunft, über
dessen Validität erst im Moment der Einlösung entschieden sein wird. In sprachlich-musikalischer Form
nimmt es Handlungen und Einstellungen vorweg, die unter der Botmäßigkeit von zukünftigen Freiheiten
und Kontingenzen stehen.
Gleichzeitig legt es einen besonderen Akzent auf die Gegenwart. Das Problem, das den gegebenen Gruppenzusammenhang
bedroht wer gehört schon gern zu den Verlierern? vergegenwärtigt die Notwendigkeit des
Zusammenhalts. Die Not wendet sich im wechselseitigen Beistand. Du wirst nie alleine gehen das Ungemach
beginnt sich zu lichten, die Fangruppe rekonstituiert sich, wenn sie als Chor in Erscheinung tritt. Schon in
der Niederlage schöpft sie Hoffnung auf bessere Zeiten, Musik wird zu einem Akt sozialer Konstruktion.
Doch nicht nur die Gruppenbildung in der an Niederlagen und Triumphen reichen Welt des Sports tendiert zum
musikalischen Medium. Auch dort, wo es ernst wird und die Ausstiegsklauseln eines Es ist nur
Spiel nicht mehr umstandslos gelten, spielt Musik eine sozialverbindliche Rolle. Sie gruppiert Individuen
mit Blick auf ein telos. Instanzen und Ereignisse wie Gott, Nation, Revolution oder Liebe werden als Verbindendes
anvisiert. Ganze Genres mit eigenen Formensprachen modellieren das Hier und Jetzt mit Blick auf ein Dermaleinst,
auf die Herstellung eines glücklicheren Zusammenhangs, auf die Verlängerung eines gelingenden Augenblicks
oder auf eine weiter zu überliefernde Tradition. Sie artikulieren die Entschiedenheit des gemeinsamen Eintretens
für ein Ziel.
Bindekraft der Musik
Dabei scheint das Paradox des Versprechens auch in diese musikalisch gestützten Gemeinschaftsbildungen
hinein. Der Anspruch auf Schutz und auf die gemeinschaftliche Erfahrung von existenzieller Fülle ist stets
auch einer, der zu Freiheit und Kontingenz in ein Spannungsverhältnis treten kann.
In Massen zum Ereignis Popmusik: Woodstock als Medium der
Suche nach neuen Werten. Foto: Archiv
Das Versprechen und sein musikalisches Medium, der Choral, die Nationalhymne, das Kampflied oder die Liebesarie
sollen ähnlich wie der Fangesang gewährleisten, was vom Standpunkt der Gegenwart nicht hinreichend
zu gewährleisten ist. Sie sollen mit ihren Bindekräften die äußeren Kontingenzen abhalten,
die zufälligen Erfahrungen eines Andersseins, die quer stehen zum Wertekanon des gegebenen Zusammenhangs.
Gleichzeitig sollen sie den immanenten Faktor pazifizieren, die Freiheit des Einzelnen, die den Zusammenhang
immer wieder neu zur Disposition stellt. Gemeinschaften sind prekäre Gebilde. Stets vom Keim der Auflösung
bedroht, greifen sie auf Musik als eines der Mittel ihrer Stabilisierung zurück. Die Bindung an ein Ziel
und eine Gemeinschaft, die hier anvisiert wird, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Sie kann einen emanzipatorischen
Charakter tragen. Man denke etwa an Verdis Engagement für das italienische Risorgimento oder an andere
Kompositionsschulen, die in unterschiedlichen Bewegungen der nationalen Einigung und Befreiung eine Rolle spielten.
Auch beim Ereignis Woodstock kam Musik in einer verbindenden und aus den Fesseln eines überkommenen
Wertehorizonts befreienden Rolle in Betracht. Was die rasch einsetzende Kommerzialisierung aus dieser Musik
auch immer gemacht haben mag, angelegt war sie als ein Medium der Suche nach neuen Formen des Lebens und Zusammenlebens.
Ja, man könnte in einer heideggerianisierenden Terminologie von einer neuen Lichtung des Seins,
einer neuen Art des Weltbezugs sprechen, die sich von Woodstock her anschickt. Thomas Steinfeld hat in seinem
lesenswerten Buch Riff nachgezeichnet, wie die Songs jener Jahre zu Hymnen einer ganzen Generation
geworden sind.
Andererseits kann die Bindekraft der Musik auch in sehr verfänglicher Weise wirken. Sie kann einbinden
in einen überlebten, regressiven oder fundamentalistischen Zusammenhang. Theatralische Inszenierungen
von Politik nutzen die entsprechenden Möglichkeiten oft sehr vordergründig. Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus
zeigen aber auch, dass dies mit einer erschreckenden Subtilität geschehen kann. Der Appell an ein Gemeinschaftliches
wird zu einer ideologischen, in Herrschaftszwecke einspannenden Macht.
Zwiespältiges
Das zwiespältige Verhältnis von Musik und Gemeinschaft verweist auf eine Debatte in der Gegenwartsphilosophie,
die vor allem in den angelsächsischen Ländern Furore macht. Dort hat sich gegenüber einem breiten,
von den Neoliberalen bis zu den Anarchisten reichenden Spektrum liberaler Denkansätze ein seinerseits
vielfältig in sich gebrochenes Spektrum kommunitaristischer Positionen herausgebildet. Während
die Liberalen vor allem den einzelnen und seine Rechte als Person in den Mittelpunkt stellen, Gemeinschaft mit
Gruppenzwang assoziieren und Freiheit wesentlich als Freiheit von gemeinschaftlichen Vorgaben fassen, messen
die Kommunitaristen den Gemeinschaften und sozialen Bindungen eine tragende und Freiheit erst ermöglichende
Rolle im Leben des einzelnen bei.
Verwerfungen, Chancen
Den unterschiedlichen Positionen gemäß ließen sich unterschiedliche Haltungen zur gemeinschaftsstiftenden
Funktion von Musik extrapolieren. Während der liberale Standpunkt zu einer weitgehenden Kritik käme,
wäre vom kommunitaristischen Standpunkt hier wohl mit differenzierteren Befunden zu rechnen. Zur kritischen
Beurteilung der gemeinschaftsstiftenden Rolle von Musik wäre unter anderem auch der jeweilige Charakter
der Gemeinschaft mitsamt seinen Schutzfunktionen und Individuierungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen.
Als Bezugspunkt ergäbe sich die Utopie einer liberalen Gemeinschaft, die ohne das Versprechen unbedingter
Bindung auskommt, deren Bindungskräfte aber stark genug sind, um einer problematischen Vereinzelung entgegenzuwirken.
In der Debatte zwischen Kommunitaristen und Liberalen spiegeln sich Probleme und soziale Verwerfungen einer
sich globalisierenden Welt. Der Neoliberalismus und die von Habermas diagnostizierte Kolonialisierung
der Lebenswelt durch den Markt und andere systemische Zusammenhänge zehren an gemeinschaftlichen
Ressourcen, die sich auch im musikalischen Medium reproduzieren. Andererseits liefert die Globalisierung auch
Anlässe und Mittel zu Gegenentwürfen. Musik untersteht nicht nur der Marktlogik oder dem Kalkül
der Kulturindustrie, sondern bringt in geglückten Momenten etwas hervor, das zum Fokus von neuen Formen
der ästhetischen Kommunikation werden kann. So ist das, was mit George Harrisons Sitar-Unterricht begann,
in Form der Weltmusik inzwischen eine prägende Erscheinung der Populärkultur. Wer hier nur ein Zusammenspiel
von schlechter Popularisierung und problematischer Amalgamierung vormals eigenständiger Musikformen ausmachen
kann, der sei auf avanciertere Kompositionen der Neuen Musik verwiesen, etwa auf die Virtuosität, mit der
Olivier Messiaen unterschiedlichste Traditionen in seine Arbeit einbezogen hat.
Deutsche Eigenarten
Aus deutscher Perspektive stellt sich das Problem von Freiheit und Gemeinschaft in noch verwickelterer Weise.
Vieles von dem, was sich im 19. Jahrhundert als musikalisch-kulturelle Selbstvergewisserung einer verspätet
zur politischen Einheit gelangenden Nation ergeben hatte, wurde in der NS-Zeit desavouiert. Die quasi-neurotische
Verdrängung dieser Zeit in den darauffolgenden Jahren trug das ihrige dazu bei, jeden musikalischen Appell
an ein Gemeinschaftliches in die Nähe eines Appells an eine substanzielle Volksgemeinschaft zu rücken.
Anders als in den angelsächsischen Ländern ging es nicht darum, dass starke liberale Traditionen sich
ihrer gemeinschaftlichen Ressourcen versicherten, sondern eher darum, dass liberale Grundsätze angesichts
von volksgemeinschaftlich besetzten und schamhaft oder auch kalkuliert verdrängten Traditionen
erst zur Geltung zu bringen waren.
BRD und DDR
Hinzu kam die Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten, die ihren musikalischen Austrag nicht
zuletzt auf dem Gebiet der Nationalhymnen fand.
Die wirtschaftlich mächtige Bundesrepublik stieß auf eine zumindest im Spitzensport überlegene
DDR, die sich mit ihrer Hymne bei den allfälligen Siegerehrungen in Szene zu setzen wusste. Aus den Niederlagen
erwuchs in der Bundesrepublik wiederum ein Zwang zur Rationalisierung der punktuellen Unterlegenheit: Die schwer
erreichbaren Kirschen des Erfolgs mussten bitter sein. Auch aufklärerische Versatzstücke mischten
sich in das Ressentiment: Wer so auf hymnische Erhebung aus war wie der Gegner, bei dem musste etwas im Argen
liegen und überhaupt sei das Spiel hier zu sehr mit dem Ernst vermengt.
Mit Blick auf das Politische waren die gemeinschaftsstiftenden Potenzen der Musik in Deutschland so Teil einer
Gemengelage, die sich aus problematischem Traditionsbezug, unkritischer Verdrängung, kritischer Distanz,
Ressentiment und Systemkampf ergab. Was eine dezente Darstellungsform eines demokratisch verfassten, liberalen
und pluralistischen Gemeinwesens hätte sein können, wanderte ab in den deutschtümelnden Kitsch
der Heimatmusik oder verblieb im Einzugsbereich eines ewiggestrigen Nationalismus. Die besondere Konstellation
von Musik und Politik hatte dabei auch Auswirkungen bis in die Avantgarde hinein. Schon der strenge Serialismus
der Darmstädter Schule ist bis zu einem gewissen Punkt ein Produkt dieser Situation. Denn der radikale
kompositorische Konstruktivismus, der hier Programm war, impliziert einen denkbar tiefen Bruch mit einer Formensprache
und mit Rezeptionsgewohnheiten, die nicht zureichend gegen ihre politische Verfügbarmachung gewappnet schienen.
Die Avantgarde betreibt einen aporetischen Rückzug aus einer aporetischen Situation. Musik wird zur Sache
von Spezialisten und zur Flaschenpost an einen fernen und unbekannten Adressaten.
Utopische Ausblicke
Die Politisierung des Komponierens in den späten 60er-Jahren erscheint in diesem Szenario wiederum als
eine Gegenbewegung. Sie kritisiert einerseits den hermetischen Abschluss der Neuen Musik, andererseits ist sie
bemüht, die Verdrängungen aufzuarbeiten, die ihn mitverursacht haben. Der utopische Überschuss,
der dabei zum Tragen kam, war das Signum der Zeit. Die Entwicklung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist
weniger griffig darstellbar. Sie verläuft in der ganzen Spannbreite zwischen einer Fortführung der
Materialästhetik und der Hinwendung zum hedonistischen Wohlklang.
Immerhin scheint ein wichtiger Zug in der stärkeren Berücksichtigung der Rezipierbarkeit von Neuer
Musik zu liegen. Vielleicht geht mit den veränderten politischen Umständen, die eine Auflösung
der deutschen Neurose allmählich denkbar erscheinen lassen, auch eine weitere Entspannung im
Verhältnis zwischen Neuer Musik und Publikum einher.