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nmz 2002/05 | Seite 45-46
51. Jahrgang | Mai
Dossier: Musik und nationale Identität
Identität, Nation und Globalisierung
Notwendige Verwicklungen zwischen Geschichte und Gesellschaft · Von Martin Hufner
Ohne Zweifel, der Weg der Deutschen zu jener Nationenbildung, die sie jetzt erreicht haben, war ein Weg
scheinbarer Erfolge, bitterer Katastrophen, säkularer Verbrechen, die sie begangen haben, und schließlich
einer Bescheidung, die es begreiflich macht, warum der Begriff einer deutschen Staatsnation heute nicht ohne
emotionale Belastung verwendet wird, schreibt der Historiker Reinhart Koselleck. Er umreißt damit
in wenigen Worten die Schwierigkeit speziell der deutschen Geschichte, die bis in die Gegenwart unter den weltpolitischen
Veränderungen sich abzeichnen.
In den 70er-Jahren stellte Jürgen Habermas einmal die Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige
Identität ausbilden könnten. Ohne auf den auch normativen Gehalt dieser Frage eingehen zu wollen,
bleibt die Frage nach der Möglichkeit, ob und wie Gesellschaften überhaupt eine Identität ausbilden
können, bestehen. Schon bei einzelnen Individuen den Bildungsprozess von Identität zu beobachten oder
nachzuvollziehen, bereitet nicht geringe Probleme. Doch immerhin gibt es da so etwas wie einen Anfang und eine
chronologisch nachvollziehbare Beobachtungsmöglichkeit. Bei Gruppenidentitäten wird es schon unübersichtlich
und bei Völkern und Nationen lässt sich fast überhaupt nicht mehr ohne weiteres mit einem undifferenzierten
Begriff der Identität operieren. Gruppenidentität sei nach Habermas nicht die Summe von
Ich-Identitäten im Großformat, sondern verhalte sich vielmehr komplementär dazu. Wozu dienen
überhaupt Identität oder Konstruktionen wie Nation? Welche Chancen aber auch Probleme
sind mit diesen Begriffen historisch und gesellschaftspolitisch verbunden? Kann man überhaupt in den Zeiten
der Informationsgesellschaft von musikalischen Nationen sprechen?
Bekannt ist die Erfahrung, die gerade in der traditionellen Musikkultur nicht zu überhören ist,
dass man zum Beispiel der Musik relativ gut anhören kann, woher sie geografisch und damit auch mental stammt.
Das französische Klangbild im 19. und 20. Jahrhundert unterscheidet sich signifikant von einem russischen
oder amerikanischen Ton. Man kann also durchaus davon ausgehen, dass es regionale Unterschiede gibt.
Die Identität einer Musikkultur oder Musiksprache steht dabei in einem ähnlichen Zusammenhang wie
auch die expressiven Äußerungen in den Umgangsformen der Menschen untereinander: Zum Beispiel Begrüßungsformen,
Ess- oder Festkultur. Nationale Identitätsbildung ist dabei nicht mit Nationalismus gleichzusetzen: Radikaler
Nationalismus ist eine Form nicht gelungener Identitätsbildung, nämlich ein Gefängnis mit zugleich
bedrohlichen Auswirkungen und Zeichen fehlenden Selbstvertrauens.
Stich- und Reizwort Globalisierung: Mit der seit etwa 20 Jahren sich deutlich abzeichnenden Form globaler
Interaktion und Kommunikation ändern sich nationale und private Identitäten entscheidend. Gemeint
wird mit dem Begriff der Globalisierung jedoch meistens eine hegemoniale Ausbreitung US-amerikanischer Kultur
und Politik. Damit ist ein Wort gefunden, welches in den 60er-Jahren noch Kosmopolitismus hieß. Unter
dem Stichwort Nation wird im Philosophischen Wörterbuch aus der DDR (1964) einem
proletarischen Internationalismus der ausbeuterische imperialistische Kosmopolitismus
gegenübergestellt. Im reaktionären Nationalismus und Kosmopolitismus äußern sich
die Bedürfnisse des Finanzkapitals. Sie dienen dem Streben nach Vorherrschaft über die eigene und
über die anderen Nationen.
Da steht die Musik nicht allein: Nicht immer sind identitätsstiftende
Maßnahmen und der Wunsch nach Übersichtlichkeit mit Erfolg verknüpft. Foto: M. Hufner
Dieses einfache Schema ist heute noch immer aktuell, nur hat sich sein Gehalt durch seine reale Dynamik stark
erweitert und ist, entkleidet von seinen ideologischen Hilfskonstruktionen, vieldeutiger und umfassender: Globale
Märkte sowie Massenkonsum, Massenkommunikation und Massentourismus sorgen für die weltweite Diffusion
von oder Bekanntschaft mit standardisierten Erzeugnissen einer (überwiegend von den USA geprägten)
Massenkultur, schreibt Habermas in seinem bemerkenswerten Aufsatz Die postnationale Konstellation
und die Zukunft der Demokratie, und weiter: Dieselben Kulturgüter und Konsumstile, dieselben
Filme, Fernsehprogramme und Schlager breiten sich über den Erdball aus; dieselben Pop-, Techno- oder Jeansmoden
erfassen und prägen die Mentalität der Jugend noch in den entferntesten Regionen; dieselbe Sprache,
ein jeweils assimiliertes Englisch, dient als Medium der Verständigung zwischen den entlegensten Dialekten.
Die Uhren der westlichen Zivilisationen geben für die erzwungene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
den Takt an. Der Firnis einer kommodifizierten Einheitskultur legt sich nicht nur auf fremde Erdteile. Er scheint
auch im Westen selbst die nationalen Unterschiede zu nivellieren, so dass die Profile der starken einheimischen
Kulturen immer mehr verschwimmen. Doch bemerkt Habermas zugleich eine damit verbundene dialektische Bewegung.
Es entstünde nämlich im gleichen Zuge auch eine Unzahl regional sich differenzierender und abgrenzender
Subkulturen. Habermas schreibt: In Reaktion auf den uniformierenden Druck einer materiellen Weltkultur
bilden sich oft neue Konstellationen, die nicht etwa bestehende kulturelle Differenzen einebnen, sondern mit
hybriden Formen eine neue Vielfalt schaffen.
In Deutschland macht man es sich in manchen Kreisen sehr einfach, indem man für den Untergang des Abendlandes
(und sie meinen damit pars pro toto Deutschland oder gar die deutsche Nation) der Überstülpung amerikanischer
Lebensweisen die Schuld zuweist. Das ist einfach und bringt schnell Beifall. Aber so stimmt es einfach nicht.
Dahinter steckt ein anderes Problemfeld. In dem unterstellten Maße ist in Europa offenbar nur Deutschland
von dieser Amerikanisierung betroffen und warum Island, Tschechien, Spanien oder die Türkei nicht?
Für die deutsche Entwicklung bis heute gibt es viele und komplexe Gründe. Nicht nur die mit der
Teilung Deutschlands nach 1945 einsetzende Form des Kampfes zweier unterschiedlicher auf den eigenen Wohlstand
bedachter Unterstützungen durch die ideologischen Kampfhähne aus den USA und der UdSSR hat eine vernünftige
Herausbildung oder Entwicklung einer vernünftigen nationalen Identität behindert, auch der bis heute
anhaltende Verdrängungsmechanismus in der Auseinandersetzung mit der deutschen Kulturgeschichte (mit all
ihren schönen und mit all ihren grässlichen Bestandteilen) ist eine fortwährende und anhaltende
Blockade. Der fließende Übergang in Deutschland vom nationalen Prinzip, welches sich im 19. Jahrhundert
herausbildete, zum Nationalismus erschütterte die integrative Funktion des Nationalen. Der Historiker Jürgen
Kocka kommt zu dem Schluss: Diese nationale Tradition bietet wenig Anknüpfungspunkte leider.
Eine weitere Beobachtung macht Kockas Kollege Koselleck, wenn er Deutschland eine besondere Position im Chor
der Nationen zuweist. Anders als in Großbritannien, Frankreich, Polen oder Italien hat sich für Koselleck
in Deutschland das föderale Prinzip gegen das nationale behauptet: Und es sind die föderalen
Strukturen, die über Jahrhunderte hinweg verhindert haben, dass sich so etwas wie eine deutsche Staatsnation
im modernen demokratischen Sinne gebildet hat[te]. Ähnlich bei Kocka: Der Nationalstaat war
niemals die Regel in der deutschen Geschichte.
Man muss sich aber auch nicht unbedingt als Nation konstituieren und kann dennoch eine Identität haben.
Die deutsche Kultur ist keinesfalls bloß ein außengesteuertes Patchwork. Es gibt in Deutschland
langfristige, gute und zu erhaltende Traditionen. Für die gegenwärtige Situation sollte man daher
die Bereiche unterscheiden, in denen die amerikanische Kultur zum Beispiel in Deutschland präsent ist.
Dazu gehören fast durchweg nicht die Neue-Musik-Szene oder die Orchester- und Theaterlandschaften
wie insgesamt nicht die Kulturbereiche, die sich aus dem Verständnis der selbstverfassten bürgerlichen
Öffentlichkeit entwickelten; wohl aber die Elemente der Massenkultur wie Film, Fernsehen und immer mehr
auch selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Die Neuerfindung einer eigenen nationalen Massenkultur
dagegen ist zum Scheitern verurteilt. Zu denken ist beispielsweise an Hanns Eisler und Johannes R. Bechers Neue
Deutsche Volkslieder Anfang der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Aber es ist auch prinzipiell ein
Problem der modernen industriellen Gesellschaften, dass sie aus eigener Kraft keine Traditionen mehr bilden
können. Neue Volkslieder gibt es seit Beginn des 20. Jahrhunderts in diesen Gesellschaften überhaupt
nicht mehr.
Wie schnell allein die Kultur der DDR im angeblich geeinten Deutschland begraben worden ist, lässt für
die Zukunft nichts Gutes ahnen. Unter den Vorzeichen einer neuen gemeinsam erstellten gesamtdeutschen Verfassung
wäre die Chance ungleich größer gewesen, den Staat zu einen und mit sich selbst auszusöhnen.
So jedenfalls gärt es unter der administrativ vorgeblich beruhigten Oberfläche. Ost-und-West-Dialoge
können dabei im Nachhinein zwar die Probleme aufdecken, Verständnis wecken, sie bleiben aber ohne
politische Arbeit Randphänomene. Da erscheint das Wortnehmen von der Globalisierung schon wie ein kultureller
und politischer Rettungsanker, der zugleich die wirklichen Ursachen für Probleme der Identität des
geeinten Deutschlands verschleiert. Nun ist die Entwicklung der gegenwärtigen Geschichte nicht
rückgängig zu machen. Bewegungen in ein vermeintliches traditionelles Zurück sind
zwar individuell möglich, ändern jedoch an der globalen Situation nichts. Auch eine Rück-Besinnung
auf Nation ist unter dem Druck multilateraler Beziehungen in der Welt nicht begehbar (weil Nation
wie in Deutschland ein mehr fiktionaler Begriff denn ein geschichtlich ausformulierter ist) oder führt,
wie man an den Entkolonialisierungsprozessen in der so genannten Dritten Welt oder in den nationalen Bewegungen
der ehemaligen GUS-Staaten und des Balkan-Gebietes sehen konnte und kann, zu bisweilen fürchterlichen Resultaten.
Man kommt nicht daran vorbei, in dieser Welt zu leben.
Nie waren die Grenzen innerhalb Europas, im Wesentlichen aber auch über den Globus verteilt, so durchlässig
wie seit den letzten Jahren. Es ist ohne Probleme möglich, dass brasilianische Musiker mit norwegischen,
englische mit japanischen, südafrikanische mit französischen, westdeutsche mit ostdeutschen zusammen
musizieren. Die Musikwelt des Jazz macht es vor: Step across the border. Das hat allerdings nichts
mit dem vielfach beschworenen Multikulturalismus zu tun, der seinerseits selten mehr als eine Phase darstellt.
Es geht dabei auch nicht um eine Rekonstruktion der Musik als einer Weltsprache, als eines sprachlichen Esperanto-Kitts,
sondern vielmehr um die gegenseitige Anerkenntnis des Anderen. Um andere anerkennen zu können, muss man
jedoch selbst genug in sich selbst gefestigt sein.
Nur wenn die Ich-Bildung an einem selbst sich glücklich vollzieht, ist auch die Möglichkeit gegeben,
sich zu öffnen für den Anderen. Theodor W. Adorno hatte für die Problematik der Ich-Bildung und
die Entwicklung von Ich-Identität ein sehr feines Gespür und verwies auf seine normativ-dialektischen
Implikationen. In seiner Negativen Dialektik schreibt er: Frei sind die Subjekte, nach Kantischem
Modell, soweit, wie sie ihrer selbst bewußt sind, mit sich identisch sind; und in solcher Identität
auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren. Unfrei sind sie als nichtidentische,
als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen
nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjektes mit sich , auch des Zwangscharakters der Identität
ledig werden.
In dieser Denkweise liegt auch eine Chance für die problematische nationale Identitätsfindung Deutschlands.
Sie könnte daran ein hohes Maß an Flexibilität zeigen und die vermeintliche nationale Schwäche
gerade auch kulturell zu ihrer Stärke machen: Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer aufklärerischen
und emanzipativen Traditionen zeigen und diese Tradition immer auch selbstkritisch hinterfragen und damit ein
wertvoller und offener kultureller und politischer Gesprächspartner im Kreis der Weltgemeinschaft sein.
Gegenwärtig scheint die Bewegung leider in eine andere Richtung zu gehen. Die misslingende Identitätsbildung
im Innern (Ost/West Nord/Süd) hält an und verringert dadurch den so bitter notwendigen Solidaritätsbeitrag
für das Funktionieren des inneren Föderalismus.
Martin Hufner
Literatur
Theodor
W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1975. Günther
Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Menschen im Zeitalter der dritten
industriellen Revolution, München 1980. Ulrich
Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986. Jürgen
Habermas: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden, in: ders.: Zur
Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt/Main 1982. Jürgen
Habermas: Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik,
in: ders.: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/Main 1987. Jürgen
Habermas: Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders.: Die postnationale Konstellation.
Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. Jürgen
Kocka: Das Problem der Nation in der deutschen Geschichte 18701945, in: ders.: Geschichte und Aufklärung,
Göttingen 1989. Jürgen
Kocka: Zerstörung und Befreiung: Das Jahr 1945 als Wendepunkt deutscher Geschichte, in: ders.: Geschichte
und Aufklärung, Göttingen 1989. Reinhart
Koselleck: Deutschland eine verspätete Nation? in: ders: Zeitschichten. Studien zur Historik,
Frankfurt/Main 2000. Alexander
und Margarethe Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, Frankfurt/Wien/Zürich
o.J. Hellmuth
Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes,
Frankfurt/Main 1988. Karl
Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen,
Frankfurt/M. 1978. George
Ritzer: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995. Philosophisches
Wörterbuch in zwei Bänden, herausgegeben von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 1964, Berlin/West
1972 (achte Auflage).