[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 46-47
51. Jahrgang | Mai
Dossier: Musik und nationale Identität
Identitäten und die Formen des Klingens
Thesen über das Verhältnis von Musik zu geistig kulturellen Einheiten
In seiner Glosse über Sibelius aus dem Jahr 1938 erlaubt sich Theodor W. Adorno den launigen
Satz: Symphonien sind keine tausend Seen: auch wenn sie tausend Löcher haben. Die Frage freilich
darf angeschlossen werden: Kann eine Musik, notfalls oder notwendigerweise mit tausend Löchern, das Lebensgefühl
eines Landes widerspiegeln, in dem wirklich unzählige Seen weite, ja grenzenlose Flächen bilden, in
dem der Lebenspuls aus Licht und Dunkel weit größer dimensioniert schwingt als in südlichen
Breiten?
Es wird kaum jemand geben, der nicht innere oder auch äußere Verbindungen zu entdecken glaubt. Singen
oder Schall zu geben hängt wesentlich mit der akustischen Umgebung zusammen und die vergleichende Musikethnologie
hat einige erstaunliche Übereinstimmungen bei nicht verwandten musikalischen Kulturen aufgewiesen, wenn
diese in vergleichbaren geologischen Räumen (schroffe Gebirge, weite Ebenen, kleingliedrige Flusslandschaften
etc.) angesiedelt sind; so wie es zum Beispiel in Australien oder im Rest der Welt einige Säugetiere
gewissermaßen nochmal gibt (etwa den Maulwurf, die Ratte oder den Bär), in Australien nur als Ausgabe
mit Beutel.
Musik passiv und aktiv
Bei der Musik geht es aber noch weiter. Musik ist die Kunstform, die vielleicht am entschiedensten Züge
des Reagierens besitzt (das Ohr ist mehr passives, das Auge hingegen mehr aktives Organ). Keine fordert so intensiv
das Wahrnehmen, das Vernehmen ein, und zwar nicht nur im rezeptiven, sondern auch schon im schöpferischen
Akt. Der Komponist hört sein Stück, bevor er es notiert. Und wenn man auch bei anderen Kunstformen,
etwa bei der Malerei oder der Dichtung, ein vom Künstler vorweggenommenes sinnliches Erfassen reklamieren
mag, so ist es doch die Musik, in der daraus immer wieder ein Mysterium, zum Beispiel das der Eingebung von
oben oder von wo auch immer, gemacht wird. Aus dieser Haltung heraus wird Musik dann im Anschluss freilich aktiv,
und auch hier ist sie rigide: Sie lässt nicht in Ruhe, sie fordert körperliche und geistige Präsenz.
Weghören geht schlechter als Wegsehen. Darum taugt Musik zum Weitergeben von Botschaften mehr als andere
Künste. Und da sie im Semantischen beschränkt ist, bedient sie sich, wenn Konkretion gefragt ist,
des gesungenen oder auch anderswie in die Musik integrierten Wortes. Das wissen alle Kulturen, immer schon erhob
sich die Stimme zum Sanglichen, wenn es um Mitteilung eherner Werte ging (sei es im Psalmodieren in der Kirche,
sei es im buddhistischen Deklamieren von Weisheitsgrundlagen). Musik ist also zumindest von dieser Warte
aus gesehen höchstes Vermittlungsorgan. Sie nimmt Befindlichkeiten empfindsam wahr und gibt sie
nachdrücklich wieder.
Musik und Wahrheit
Auf dieser Basis stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Musik und nationaler Identität auf
neue Art. Sie ist konsequent. Nie würde sie, nie könnte sie einem (über Eroberung oder Besetzung)
aus dem Boden gestampften nationalen Territorium Nachdruck verleihen. Denn dem Verordneten widersetzt sie sich,
zumindest wenn sie ernst genommen werden will, zugleich dumpf (also träge gegenüber diversen Bestechungsversuchen)
und hellhörig. Musik macht nicht mit mit künstlichen Konstrukten: oder wenn sie mitmacht, wird sie
falsch und oberflächlich. Sie notiert Befindlichkeiten, hierin ist sie letztlich unbestechlich (weil sie
als Bestochene hörbar wird lügen nämlich kann sie nur schlecht). Dass heute zum Beispiel
nationale Findung in den baltischen Staaten gerade auf musikalischem Gebiet auf der Tagesordnung ganz oben steht
ist kein Wunder. (Fortsetzung auf Seite 47) u
u Unter sowjetischer Oberherrschaft war dort die Musik zurückgeschnitten, Identitäten blieben weitgehend
im Verborgenen, gewissermaßen unter der Erde. Beim ersten Frühlingsregen beginnt sie zu keimen.
Musik als Geistesspiegel
Somit schreibt Musik den Geist ihrer Zeit mit. Sie prägt nationale Eigenständigkeiten aus, solange
diese auch gesellschaftlich relevant sind. Gibt es solche Relevanzen, dann findet gerade die Musik als empfindsam
reagierende und nachhaltig vermittelnde Kunst die entschiedensten Sprachmittel. Oft werden aber, unter gesellschaftlich
anderen Umständen, auch nationale Grenzen transzendiert. In der europäischen Renaissance etwa, die
eine Geisteshaltung im Sinne eines frühen und fortschrittlichen Kapitalismus installierte, traten nationale
Belange weitgehend zurück.
Die Musik formte damals ein neues zeitliches Denken aus, eines der Rasterung, des Messens, musikalisch: der
Metrisierung. Dass ein Descartes damals das Koordinatensystem entwarf, dass er philosophisch den Ich-Punkt und
die Unleugbarkeit seiner Existenz bestimmte, dass ein Giordano Bruno die Einheit des Alls proklamierte, dass
ein Thomas Morus oder ein Francis Bacon teleologische Entwürfe in die Zukunft formulierten (die den Fixpunkt
des Jetzt benötigen), all dies fand auf vermitteltem Wege Eingang in die Musik, die zugleich zu dieser
Zeit nationale Eigenarten im Dienste der übergreifenden Bestimmung weitgehend abstreifte.
Europäische Identität im Sinne eines weltweit einzigartigen Aufbruchs in kapitalistische Produktionsbedingungen,
die sowohl neue Subjektivität als auch (damit verbunden) ein neues Verhältnis zur Zeit und ihrer Einteilung
verkündeten, ergriff unmittelbar das musikalische Denken. Barock, Klassik und Romantik begleiteten getreu
die Stationen des Bürgertums vor, während und nach der (bürgerlichen) Revolution und die
Musik unterstrich dann auch wieder die durch den Konkurrenzdruck aufkommenden nationalen Merkmale und Eigentümlichkeiten
in den zentralen Herrschaftsbereichen, vor allem aber in Ländern, die sich freikämpfend etablierten.
Gleichwohl blieb die Musik überall, und damit hatte sie doppelte Identität, dem bürgerlichen
Menschenbild in Absetzung zu anderen Kulturen verpflichtet.
Das ist auch Grund dafür, dass in außereuropäischen Ländern, die sich der kapitalistischen
Produktionsweise annäherten (zum Beispiel Japan, aber auch viele andere Länder), die Musik von Barock
bis Romantik zumindest im rezeptiven Bereich einen verblüffenden Aufschwung erlebte: bis hin zur weitgehenden
Eliminierung eigener kultureller Identität, die im neuen gesellschaftlich geistigen Umfeld gleichsam als
nicht mehr zeitgemäß angesehen oder empfunden wurde.
Weltmusik
Musik, die heute unter dem Begriff Weltmusik firmiert, verkündet nationale Offenheit, das Ende nationaler
Engstirnigkeit. Da aber sollte man vorsichtig sein. Hier verbinden sich eigenartigerweise Flower-Power-Bewegtheiten
mit weltumspannenden Interessen von industriellen Großkonzernen. Weltmusik läuft Gefahr, sich zur
Tapetendekoration eines virtuellen Global Village anzudienern. Solange die Unterscheidung zwischen Schurkenstaaten
und Regionen des Guten aufrechterhalten wird und sich im Bewusstsein festnistet, kann es so etwas wie Weltmusik
nicht geben.
Und wirklich gehen Versuche in dieser Richtung (ich denke hier nicht an Pioniertaten, die gegenseitiges Kennenlernen
und gegenseitige Achtung proklamieren und das Moment der Begegnung in den Mittelpunkt rücken) zumeist in
Richtung oberflächlicher Entertainment-Vermischung, die zwar Eigenschaften unserer medialen Welt zu spiegeln
scheinen, letztlich aber nur die Würze des Zappens zwischen beliebigen Informationen replizieren. Sie sind
das musikalische Happy-Meal mit Pommes und BigMac. Musik gibt hier ihre wesentlichen Bestimmungen auf oder verwässert
sie zumindest drastisch: die des genauen Hinhörens, der sensiblen Wahrnehmung und auch die der aktiven
Vermittlung von Botschaften. Mithin bedeutet Weltmusik heute keineswegs das Aufheben nationaler Charaktere,
sondern im Wesentlichen deren Missachtung. Sie entspricht einer postkolonialen Verwaltung der Welt, in der die
Kreise, die über Knowhow und Mittel verfügen, die Macht des Sagens, des Tonangebens an sich reißen.
Widerstand dagegen hat ein menschlicheres und somit letztlich progressiveres Recht. Er zieht seine Wurzeln immer
noch aus dem Beharren auf nationaler Eigenart, zugleich aus dem Bewahren von Vielfalt.
Und wieder scheint es unter den Kunstsparten gerade die Musik zu sein, die diese Vielfalt der Lebensgefühle,
des emotionalen Daseins-Befindens am entschiedensten wiederzugeben und facettenreich auszuspannen in der Lage
ist.