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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 27
51. Jahrgang | Mai
Jeunesses Musicales Deutschland
Warum fern, wenn der Nachbar doch so schön
Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg reiste nach Polen
Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg (LJO) bereiste über Ostern zwei Wochen Polen. Während
Jugendensembles allerorten gen Mexiko, Japan und Südafrika reisen, entdeckten die jungen Musiker des LJO
die Geheimnisse des weitgehend unbekannten Nachbarn.
Dass die musikalische Arbeit bei einer Arbeitsphase und Konzertreise des Landesjugendorchesters Baden-Württemberg
(LJO) im Vordergrund steht, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Dennoch sei betont, dass die Mitte April
zurückgekehrten jungen Talente auf besonders gelungene Konzerte mit Werken von Humperdinck, Paganini und
Mendelssohn zurückblicken können. Der erst 15-jährige Heidelberger Stefan Tarara, Solist des
1. Violinkonzertes von Niccolò Paganini, trägt an diesem Erfolg einen ganz gehörigen Anteil.
Das Landesjugendorchester mit Dirigent Christoph Wyneken. Foto: JMD
Das Besondere dieser Reise waren jedoch nicht nur die Konzerthäuser in Krakau oder Katowice, sondern die
Kooperation mit zwölf polnischen Musikern im LJO-Alter, die das Orchester tatkräftig in allen Bereichen
des Jugendorchesterlebens unterstützt haben...
Als erster großer Höhepunkt der erfolgreichen Zusammenarbeit von baden-württembergischen Musikschulen
und gleichen Institutionen in Südpolen war diese Reise geplant und hat dieser Arbeit neue Initiative und
Motivation beschert: begeistert durch den berauschenden Orchesterklang, gelenkt von der mitreisenden Delegation
baden-württembergischer Musikschulvertreter unter Führung von Staatssekretär a.D. Heinz Heckmann.
Wie sehr die jungen Musikerinnen und Musiker von der deutsch-polnischen musikalischen Arbeit, der freundlichen
Atmosphäre, und der Entdeckung des Nachbarlandes profitiert haben, liest sich auch zwischen den Zeilen
des Artikels von Lina Böhme (Flöte) und Ursula Menne (Oboe): Unser Landesjugendorchester bereiste
während der Osterferien zwei Wochen lang Südpolen. Zunächst erarbeiteten wir sechs Tage lang
unser Konzertprogramm auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke in Krzyzowa/Kreisau, wo heute eine internationale
Jugendbegegnungsstätte eingerichtet ist.
Probesprachen waren Deutsch, Polnisch und Englisch. Geprobt wurde zunächst mit Dozenten in Stimmproben,
nach drei Tagen war Dirigent Christoph Wyneken alleiniger Herr über Bläser, Streicher und Schlagzeug.
Er trainierte uns in humorvoller und effektiver Arbeit für die bevorstehenden Konzerte. Auch Orchesterpapa
Sönke Lentz ließ diese Zeit durch seine perfekte Organisation zu einem vollen Erfolg werden. Ein
Schwall kaltes Wasser weckte uns, als wir am ersten April frühmorgens um neun zur Probe tappten. Bevor
wir die Hintergründe des Anschlags ergründen konnten, waren die drei polnischen Kontrabassisten schon
über alle Berge. Bei der darauffolgenden Wasserschlacht erfuhren wir, dass es ein polnischer Brauch ist,
sich am Ostermontag nass zu spritzen. Die zwölf polnischen Streicher, alle aus der Region Bielsko-Biala,
brachten uns das Land viel lebendiger näher, als es eine reine Konzertreise je vermocht hätte, indem
sie uns zum Beispiel auch die wichtigsten polnischen Ausdrücke lehrten.
Abends, wenn wir unsere strapazierten Rücken und Lippen beim Feiern erholten, beglückten wir die
Einheimischen mit unserem neuen Vokabular. Auch der allmittagliche Sport trainierte wechselseitig polnische
und deutsche Redegewandtheiten.
In den Mittagspausen pilgerten wir an Hühnern und Hunden der bäuerlichen Gemeinde vorbei zum einzigen
Laden des winzigen Dorfes. Dort ließen wir den Absatz an Süßigkeiten rasant in die Höhe
schießen, bevor wir wieder in den frisch renovierten Gutshof mit Schloss zurückkehrten. Hier hatte
schon der berühmte Kreisauer Kreis getagt, eine Widerstandsgruppe gegen das Nazi-Regime.
Während unserer Probenwoche dort vertieften wir unser Wissen über die Hitler-Zeit in Polen mit Filmen,
die uns auf den bevorstehenden Auschwitz-Besuch vorbereiteten. In Auschwitz und Birkenau fühlten wir mit
allen Sinnen, wie schrecklich das ehemalige Konzentrationslager auch heute noch ist. Da niemand von uns diese
größte Massenvernichtungsstätte gekannt hatte, gingen wir alle mit zahlreichen neuen Eindrücken
und sehr nachdenklich nach Hause.
Unsere Konzerte bildeten einen großen Kontrast zu diesem furchtbaren Abschnitt der deutsch-polnischen
Geschichte. Das Publikum in Katowice, Bielsko-Biala und Krakau nahm uns mit großer Herzlichkeit auf. Auch
wenn wir Probleme hatten, uns selbst in Polens Kulturhauptstadt Krakau auf Englisch zu verständigen (sogar
in den touristenintensiven Tuchhallen), machten wir uns in den Konzertsälen mit dem schottischen Charme
unserer geliebten dritten Sinfonie von Mendelssohn auch ohne Worte verständlich.
Nach diesen wunderbaren vierzehn Tagen sitzen wir nun alle wieder in unseren Schulen und Studienorten verteilt
und sehnen uns zurück ins Landesjugendorchester, in dem sich tatsächlich alle, wie es Dirigent Wyneken
formuliert hat, wie in einer großen Familie fühlen.