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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 1
51. Jahrgang | Mai
Leitartikel
Blut und Blödel
Die Erfurter Schul-Tragödie hat sehr rasch viele Exegeten gefunden. Besonders schnell reagiert haben
unsere Spitzenpolitiker. Sie standen, noch während die Polizei erste Erkenntnisse sammelte, Schlange vor
den Fernsehkameras, um ihrer Betroffenheit öffentlich Ausdruck zu verleihen.
Rau und Vogel, Schily, Schröder, Stoiber, Westerwelle: Den Eindruck, dass sie Verantwortung übernähmen
für den Zustand unserer Republik, der solchen Wahnsinn zulässt, vermittelte keiner. Verantwortung
für jenen kulturell derangierten Zustand, der bezeichnenderweise unter Bankrott-Aspekten betrachtet den
Befindlichkeiten des so genannten neuen Marktes ähnelt.
Es wurde sicherlich zu Recht vor flotten Interpretationen des Erfurter Amoklaufes gewarnt.
Doch lässt sich schon mal festhalten: glaubwürdig kam die medienwirksam vorgetragene Erschütterung
unserer gewählten Gesellschaftsgestalter nicht über den Bildschirm. Zu abgenutzt sind wohl die Stimmen,
Gesten und Gesichter in den aktuellen Schaubuden unserer postmodernen Spaßgesellschaft. Zu häufig
gezeigt die gleiche ernste Miene vor der Verlautbarung der nächsten Lüge.
Ein Kanzler, der bei Wetten dass um Wählerstimmen buhlt und für Stefan Raab wie ein
Blödel-Barde Bierlieder singt, ein Parteigeneral, der im Big-Brother-Container seine Anything-goes-Liberalität
glaubt unter Beweis stellen zu müssen, ein Kulturstaatsminister, der, statt sich um Basics wie Bildung
zu kümmern (mangels Kompetenz?) lieber durch den Show-Room des Filmexports feuilletonisiert: gefährliche
Exponenten kultureller Armut und Anbiederung, politischer Dekadenz und quantitätsgesteuerter Schnellschuss-Entscheidungen.
Keine Hoffnung auch auf den Kanzlerkandidaten der Union. Stoiber entwickelte stereotyp die Idee eines Bündnisses
gegen Gewalt statt beispielsweise eines Bündnisses für Kultur, das über ein, zwei
Jahrzehnte konsequent gepflegt, den Boden für ein menschenwürdiges Miteinander in unserer Gesellschaft
wieder aufbereiten könnte. Der lauthals und vielstimmig bejammerte Werteverlust hier zu Lande wird sich
nicht im Verlauf einer Legislaturperiode und nur durch sehr bewusste, flächendeckende Kulturarbeit beheben
lassen.
Kein Interesse, dauert zu lange, ist nicht wählerwirksam. Stattdessen weiterer Abbau künstlerischer
Fächer an unseren Schulen und Orientierung an den plutokratischen Profilen einer amerikanischen Star-Wars-Society.
Zögerliche, industriehörige Wackelpolitik, wenn es um die Substanz unseres kulturellen Lebens geht,
um die Anerkennung des Wertes von geistigem Eigentum in materieller und ideeller Hinsicht. Kurze Schock-Reaktion
auf Pisa, gefolgt von gebanntem Starren auf die Prognosen für die nächste Wahl. Es ist zum
Amoklaufen.