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nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 36
51. Jahrgang | Mai
Jazz, Rock, Pop
Gleichzeitig verrückt und zuverlässig
Das Vienna Art Orchestra ist seit fünfundzwanzig Jahren auf Tour
Vor genau 25 Jahren gründete Mathias Rüegg das Vienna Art Orchestra (VAO). Aus diesem Anlass führte
die neue musikzeitung ein Interview mit dem Leiter des so genannten Flaggschiffs des europäischen
Jazz.
neue musikzeitung: In den 80ern hieß ein Album Suite for the green eighties, heute
nennen Sie Ihr jüngstes Album art & fun (Emercy/Universal). Welche Veränderung hat
das VAO durchlaufen? Mathias Rüegg: Das Orchester hat zweifelsohne einen Reifeprozess durchlaufen. Aus der Posthippie-Band
mit all ihrem Wahnsinn ist ein ernst zu nehmender Klangkörper geworden, der eine Synthese zwischen amerikanischer
und europäischer Tradition repräsentiert. Seit zehn Jahren schreibe ich nur noch thematische Programme,
die sich sehr genau mit einem Thema beschäftigen und dieses von den verschiedensten (subjektiven) Seiten
ausleuchten. Die Nummern sind sehr genau auf die Solisten zugeschnitten, und der dramaturgische Ablauf mit der
ganzen Visualisierung wird konsequent geplant und umgesetzt, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Das heißt, wir haben 20 Tonnen Equipment mit, inklusive Bühne, Licht und Ton. Damit sind wir unabhängig
und finden immer dieselben Bedingungen vor.
Mathias Rüegg (2. Reihe, 4. v.li.) umringt von seinen Musikern. Foto:
Andy Orel
neue musikzeitung: Welche Veränderung hat der Jazz im vergangenen Vierteljahrhundert durchlaufen? Rüegg: Wenn wir aus heutiger Sicht zum Beispiel die 40er-Jahre betrachten, dann fällt es uns
sehr leicht, zu urteilen. Es ist klar, wer die Entwicklung des Bebop vorangetrieben, wer sich von der Swingmusik
nicht gelöst, wer instrumentale Standards gesetzt hat und wer Außenseiter war. Mir fällt auf,
dass sich die Jazzmusik als reproduktive und nicht mehr als innovative Kunstform zu etablieren
beginnt und in Bälde einen ähnlichen Stellenwert wie die klassische Musik einnehmen wird. Das heißt,
die Preise erhöhen sich und das Publikum wird (noch) älter werden.
neue musikzeitung: Das VAO ist gerade in einer Blick-zurück-Phase. Zuerst das Programm
A Centennary Journey (auf CD bei Quinton/Efa Medien) dann art & fun, das ganze Programm
ein großes 25-Jahre-Selbstzitat. Aber: Welche Zukunft hat ein Orchester wie das Ihre? Rüegg: Große Jazzformationen haben grundsätzlich keine Zukunft, außer der, die
man sich selber schafft. Jeder, der in dieser Branche arbeitet, weiß, was es heißt, mit einem 27-köpfigen
Tross, 31 Konzerte en suite zu spielen. Im Prinzip entscheidet sich die Zukunft von Jahr zu Jahr. Nach einem
ziemlichen Down Ende der 80er- bis in die 90er-Jahre geht es seit einigen Jahren wieder aufwärts.
neue musikzeitung: In art & fun zitieren Sie hauptsächlich aus VAO-Titeln. Wie
funktioniert denn die Komposition? Rüegg: Ich wollte für mich herausfinden, was denn eigentlich das Art Orchestra ausmacht, und
bin dadurch auf die Pole Anspruch (art) und Spaß (fun) gestoßen.
Ich habe mir dann sämtliche CDs mit der Partitur unter diesem Aspekt durchgehört und etwa 150 markante
Stellen gesammelt. Diese Zitate habe ich in zehn Untergruppen aufgeteilt, wie Bassriffs, rhythmische Patterns,
harmonische Progressionen, Melodien, Nebenstimmen, Bläserriffs et cetera, alle nach Tempi, Stimmungen und
Grooves geordnet. Dann ging es darum, einen Raster für die dreizehn Titel und deren Solisten zu finden.
Schlussendlich habe ich die Zitate auf die verschiedenen Stücke aufgeteilt und sie miteinander zu einem
neuen Ganzen verwoben.
neue musikzeitung: Mit Ihren Satie-Paraphrasen setzten Sie neue Maßstäbe. Was denken Sie
über die Inflation der Klassik-Paraphraseure wie Uri Caine, Mike Svoboda, Joachim Kühn
(um nur die besten zu nennen)? Rüegg: Nachdem sich die Jazzmusik immer mehr dem Status der klassischen Musik nähert, ist es
folgerichtig, dass die Jazzmusiker sich der klassischen Wurzeln annehmen, die im Bezug auf Harmonik, Melodik
und Struktur die Jazzmusik schon vorweggenommen haben. Denn nur durch die Rhythmik unterscheiden sich diese
zwei Musikgattungen fundamental voneinander.
neue musikzeitung: Das Vienna Art Orchestra verjüngt sich regelmäßig. Wie suchen Sie
Ihre neuen Musiker aus? Welche Anforderungen stellen Sie? Rüegg: Tatsächlich spielt die Altersstruktur im VAO eine nicht unwesentliche Rolle. Fangen
wir mit den älteren Musikern an. Sie bringen Reife, Erfahrung und das Know-how mit, wie bestimmte Dinge
im Vienna Art Orchestra gespielt werden sollten. Dann gibt es den Mittelbau, der zahlenmäßig am stärksten
vertreten ist und für die Professionalität der Durchführung steht.
Zum Schluss kommen die Jungen, die frisches Blut und frische Ideen mitbringen und sich geduldig die Witze der
älteren Generation anhören oder auch nicht! Neben all diesen Kriterien braucht es Musiker,
die gerne Reisen, Spaß am Spielen in dieser Band haben und die gleichzeitig verrückt und trotzdem
zuverlässig sind bei gegenseitigem Respekt!