[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/05 | Seite 17
51. Jahrgang | Mai
Rezensionen
Es ist des Entdeckens kein Ende
Herausgegriffen aus der Flut historischer Veröffentlichungen
Wer meint, das Meiste an wichtigen historischen Aufnahmen sei schon auf CD erhältlich gewesen, täuscht
sich grundlegend. Doch nicht nur Erstveröffentlichungen sind von besonderem Interesse, sondern auch Neuauflagen
in verbessertem Remastering, und da hat sich im Lauf der letzten zehn Jahre unerhört viel getan. Naxos
ist mit seiner Historical-Serie recht schnell in die klangliche Spitzenlage geschossen, indem man sich die Dienste
vor allem zweier führender Spezialisten sicherte: Ward Marston und Mark Obert-Thorn. So haben die Amsterdamer
Aufnahmen der Brahms-Symphonien Nr. 24 unter Willem Mengelberg (Naxos 8.110158 und 8.110164) nie so frisch
und lebendig geklungen wie in Marstons Rekreation (zumal die Dritte von 1931).
Obert-Thorn lässt Mengelbergs Heldenleben (8.110161) mit ungeahnter Strahlkraft erscheinen,
verschafft Koussevitzkys eleganter 1930er Ersteinspielung von Ravels Orchestration der Bilder einer Ausstellung
(8.110154) mehr Direktheit und Raum, und vor allem zwei Geigern gibt er einiges mehr von ihrem ursprünglichen
Glanz zurück: Joseph Szigeti im Zenit seines Könnens beim Brahms-Konzert mit Harty (1928) und beim
Mendelssohn-Konzert mit Beecham (8.110948), sowie dem überragenden englischen Musiker Albert Sammons, dessen
Ersteinspielung des Elgar-Konzerts (1929 mit Henry Wood) ganz andere, reife Qualitäten entfaltet als diejenige
des jungen Menuhin mit dem Komponisten am Pult. Obendrein ist Sammons große Kultur noch in Delius
rarem lyrischen Konzert zu genießen (8.110951).
Andere Labels präsentieren eine Novität nach der anderen, so Music & Arts, wo man in der Zusammenarbeit
mit dem Deutschen Rundfunkarchiv erstklassige Quellen erschließt und Großartiges von Celibidache,
Furtwängler, Schuricht und anderen neu herausgebracht hat. Dies kommt den legendären Aufnahmen der
Münchner Philharmoniker unter dem detailliert und mitreißend gestaltenden Vollblutmusiker Oswald
Kabasta unüberhörbar zugute in Beethovens Eroica, Dvoráks Neunter (die lange Zeit
als falscher Furtwängler durch den Markt geisterte, bis Ernst Lumpe den Nachweis erbrachte) und Bruckners
Vierter (M&A 1072). Auch die energiegeladene Präzision Hermann Abendroths (war er nun der Vater von
Willy Brandt oder nicht?) wird konturenschärfer in Beethovens 8., Brahms 2. und Bruckners 8. Symphonie
(M&A 1099). Dass Eugen Jochum respektlos als Furtwängler an der Oder verlästert wurde,
wird begreiflich in der sehr derben Symphonie KV 319 von Mozart mit den Berliner Philharmonikern, auch die Fünfte
von Beethoven ist kein Beispiel erlesener Feinheit, in Bruckners Dritter fand er etwas passendere Töne
(M&A 1100).
Die BBC schöpft aus ihren eigenen, unerschöpflichen Archiven und trumpft unentwegt mit großen
Überraschungen auf, so zuletzt mit Reginald Goodall, dem bedeutenden Wagner-Dirigenten, der am 3. September
1969 in der Royal Albert Hall das BBC Symphony Orchestra in Bruckners Achter leitete in breiteren Zeitmaßen
als Celibidache später in Stuttgart, und mit ergreifendem Resultat. Wenn Celibidache bezüglich der
wesentlichen architektonischen Momente ungleich klarer agierte, so ist Goodalls Schwäche gelegentlich
operntypisch das agogische Überbetonen von Übergängen, und der finale Höhepunkt vor
der Coda im Schlusssatz wäre in breiterem Zeitmaß von unzweifelhafterer Statur. All dessen ungeachtet
eine Aufnahme, auf die kein Brucknerianer verzichten kann, überdies mit zwei herrlichen Wagner-Zugaben
(BBCL 4086-2): dem Tristan-Vorspiel und den Wesendonck-Liedern mit Janet Baker, die mit solcher Leidenschaft
gehört zu haben ich mich nicht erinnern kann. Eine völlig andere Welt eröffnet Barbirollis Sicht
auf dieselbe Symphonie (gleichfalls in der Haas-Ausgabe der Endfassung), die endlich wieder zu bekommen ist
(BBCL 4067-2): nicht ganz unähnlich Jascha Horenstein wird Bruckner hier mit aller Leidenschaftlichkeit
und Wildheit aus dem Blickwinkel erfahrener und gezeichneter Mahler-Interpreten ins Visier genommen, und
kein Wunder so gefällt er den Mahlerianern besser. Es ist dies einer von Barbirollis letzten Auftritten
(20. Mai 1970) mit einer existenziellen Dimension des Ausdrucks, die auch den fesseln dürfte, der über
das Werk anderer Ansicht ist. Weiters ist Barbirolli als Dirigent der Klassiker zu entdecken: mit sehr energischen,
keineswegs übereilten, stellenweise gemütvoll sanglichen Darbietungen von Mozarts Haffner-Symphonie
und der Siebten von Beethoven (BBCL 4076-2), bei welcher das bellend herausstechende Blech, zumal im Finale,
manchmal sehr stört.
Überhaupt geht in vielen dieser BBC-Konzerte eine ganze Menge schief, wie das eben in Wirklichkeit ist.
Aber dafür hat der tatsächliche tönende Zusammenhang, der nicht nur virtuell nachgestellt ist,
alle Vorzüge echten Lebens und menschlicher Unmittelbarkeit. Und wenn auch noch wenig daneben geht und
im Konzert wirklich das geschah, was man sich in der aufreibenden Probenarbeit erhofft hat, dann wird der Hörer
in unverhofftem Maße beschenkt, so im Mitschnitt eines Konzerts des Royal Philharmonic Orchestras vom
15. Juni 1969 unter dem greisen Leopold Stokowski, mit einem Stokowski-typischen russischen Programm (BBCL 4069-2):
seine fulminante Bearbeitung der Nacht auf dem kahlen Berge, eigene Instrumentierungen kleiner Stücke
von Schostakowitsch und Strawinsky, Tschaikowskys pompöse 1812-Ouvertüre mit der Band of the Grenadier
Guards, Skrjabins Poème de lextase in unübertrefflich verfeinerter, organisch
sinnfälliger Gestaltung, vier russische Volkslieder von Ljadov, die in ihrer naiven Ursprünglichkeit
wunderbar sensitiv erfasste Kamarinskaja von Glinka und Borodins unverwüstliche Polowetzer
Tänze mit Chor als krönendes Finale.
Keine noch so gelungene Studio-Aufnahme Stokowskis kann an gestalterischer Kraft den hier dokumentierten Konzertabend
überbieten. Grandios auch die Wagner-CD Stokowskis (BBCL 4088-2) mit Vorspiel und symphonischer Synthese
aus den Meistersingern, wo Stokowski das LSO zu überbordender Spielfreude antrieb, die freilich nie seiner
Kontrolle entglitt. Keine Frage, dass er ein Magier war, aber was sonst sollte fesselnd sein in der Musik als
die Magie des tönenden Zusammenhangs?
Offenkundig auch kein Anhänger falscher Bescheidenheit war Sir Thomas Beecham, gewiss ein höchst
inspirierter und inspirierender Dirigent.
Beechams ganze Liebe galt Frederick Delius, von dem seltene Auszüge aus dem 2. Akt von Irmelin
zu hören sind. Voll in seinem Element war der sprudelnde Musikant Beecham schließlich in Georges
Bizets Arlésienne-Suiten, deren fein abgewogene Einfachheit unter seinen Händen blitzt und funkelt
(BBCL 4068-2). Unter dem 86-jährigen Pierre Monteux ist mit geistesblitzender Leichtigkeit und behendester
Rhythmik Rossinis Ouvertüre zur Italiana in Algeri zu hören, darauf, leider in dröhnender
Akustik, eine sehr persönlich und rubatoreich dargelegte Dritte von Brahms (BBCL 4058-2); in Schumanns
Vierter lässt Monteux äußerst drängend musizieren, das Tempo ein fortwährender Wechselfall,
die Introduktion zum Finale sehr eindringlich. Lakonisch amüsant ist der beigefügte Smalltalk mit
dem französischen Maestro.
Unter den englischen Dirigenten erwarb sich Sir Adrian Boult den Ruf eines unerschütterlich soliden Könners
von großer Charakterfestigkeit. Schuberts große C-Dur-Symphonie war eines der Werke, die er ein
Leben lang immer wieder aufführte und aufnahm.
Die hier dokumentierte späte Aufführung (1969) erfreut mit liebevoll ausgestalteten Piano-Episoden
und einer klaren Auffassung des großen Verlaufs; schade bleibt, dass sich Boult zu wenig um eine kultivierte
Balance im Forte kümmerte und hier vieles doch viel schwerfälliger und massiver klingt, als dies möglich
wäre (BBCL 4072-2). Gleiches gilt in der Potpourri-Ouvertüre zum Barbier von Bagdad, die
Peter Cornelius unter Mitwirkung Franz Liszts verfasste, nachdem dieser die bezaubernde Original-Ouvertüre
in h-Moll abgelehnt hatte. Was Boult dirigiert, ist also jene zweite Ouvertüre zum Barbier,
zudem in der gängigen Bearbeitung von Felix Mottl, und keineswegs das von Weingartner propagierte Corneliussche
Originalwerk (von alledem weiß der Booklettext nichts). Besser gelingt Boult Cherubinis Anacréon-Ouvertüre.
Zu den Juwelen für Mahler-Kenner und -Freunde kommen zwei weitere hinzu mit Jascha Horensteins Deutungen
(BBCL 4075-2) der Neunten Symphonie (LSO, 15. September 1966) und der Kindertotenlieder mit Janet Baker (3.
März 1967), und das New Philharmonia ist unter Rafael Kubelik zu hören im Otto Klemperer Memorial
Concert am 14. Januar 1974 mit Mozarts Maurerischer Trauermusik und Beethovens Neunter (BBCL
4071-2).
Viele weitere Highlights der BBC Legends-Serie ließen sich nennen, doch seien noch zwei Trouvaillen aus
der Gesamtflut herausgegriffen: Bei Dutton Laboratories erschien ein Doppelalbum des Hallé Orchestras
unter John Barbirolli, das neben einer Studio-Erstveröffentlichung (!) von Elgars Enigma-Variationen (12.
Mai 1947) und vielen kleineren englischen Werken den eine fantastische Sagenwelt evozierenden Garden of
Fand, die wildromantisch-idyllische Shropshire Lad-Rhapsodie vom frühgefallenen George
Butterworth und drei Werke von John Ireland in vorzüglichem Klangbild enthält (CDSJB 1022). In der
Spannkraft und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks einmalig sind Carl Schurichts Aufführungen von Wagner-Orchesterstücken
mit dem RSO Stuttgart (Hänssler Classic 93.019), klanglich zum Greifen nahe ein Muss!
Christoph Schlüren
Vertriebe
BBC Legends bei Musikwelt
Music & Arts bei Note 1
Dutton Laboratories bei harmonia mundi
Naxos Historical und Hänssler Classic bei Naxos