[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 8
52. Jahrgang | April
www.beckmesser.de
New Europe
Die Musikologen der Universität Brno (Brünn) suchen übers
Internet Beiträge für ein Kolloquium im Herbst mit dem
Titel „New Music in the ,New’ Europe 1918–1938:
Ideology, Theory, and Practice.“ Zur Erläuterung schreiben
sie: „It will concentrate on ,new Music’ (,neue Musik’),
musical modernisms and avant-gardes in those parts of Europe which
have recently been honoured with the title of the ,new’ Europe“.
Und weiter heißt es (ich übersetze): „In der Vergangenheit
wurden sie als ,Peripherie’ von Europa bezeichnet, als ,exterritoriale’ Sphäre
(Adorno), ,Morgenland’, Osteuropa oder, wenig abschätzig,
als Mitteleuropa.“ Anschließend wird der deutsche Historiker
Ferdinand Seibt zitiert, der die politisch und kulturell fortschrittliche
Rolle, die diese „Peripherie“ im 14. Jahrhundert für
Europa spielte, angemessen zu würdigen wusste.
Ein neuer Ton, der von einem erwachenden kulturellen Selbstbewusstsein
dieser Länder kündet. Irritierend ist nur, dass man sich
mit dem Ehrentitel „New Europe“ ausgerechnet einem
internationalen Rechtsbrecher und Angriffskrieger verpflichtet
fühlt, dem der Platz neben Milosevic in Den Haag nur deswegen
erspart bleibt, weil er zur Führung des Imperiums gehört
und damit unantastbar ist.
Kein Zweifel, die listige Schmeichelei von Mr. Rumsfeld hat in
Warschau, Prag und Sofia so wirkungsvoll eingeschlagen wie seine
Bomben in Bagdad. Sogar die unpolitische Musikwissenschaft fühlt
sich geehrt. Das sollte uns Westeuropäer jedoch nicht zu überheblichen
Reaktionen verleiten, sondern uns veranlassen, über die Gründe
nachzudenken und auch Fragen an uns selbst zu stellen. Eines muss
man vorab feststellen: Die Amis mit ihrem perfekten Nachrichtenapparat
wissen über die Stimmungen in unseren östlichen Nachbarländern
viel besser Bescheid als wir und verstehen sie entsprechend zu
instrumentalisieren.
Haben nicht die „Mitteleuropäer“ – die zweifelhafte
Ehre des „neuen Europa“ werde ich ihnen nicht antun – jahrzehntelang
auf unsere Zeichen einer geistigen Verbundenheit über die
Systemgrenzen hinweg gewartet, damit wenigstens auf diesem Weg,
wenn schon der politische verbaut war, so etwas wie eine europäische
Gemeinsamkeit oder Solidarität zum Ausdruck käme? Und
hat man sie nicht, als der Vorhang gefallen war, auf die plumpeste
Weise mit dem abstoßenden Gesicht des ökonomischen Europa,
der Brüsseler Bürokratie konfrontiert? Sie beriefen sich
auf alte Gemeinsamkeiten in Kultur und Geschichte und wurden behandelt
als Bittsteller und Domestiken, deren Länder dem „westlichen
Fortschritt“ erschlossen, lies: ökonomisch aufgerollt
werden sollten.
Was weiß man eigentlich in Deutschland über die neue
tschechische, polnische, rumänische Musik? Kaum etwas, außer
den zwei, drei Vorzeige-Slawen, die irgendwie der Gnade teilhaftig
geworden sind, im deutschen Festivalzirkus als Alibifiguren herumgereicht
zu werden. In den siebziger und achtziger Jahren waren immerhin
noch die Wittener Tage für neue Kammermusik ein bescheidenes
Schaufenster in den Osten. Heute, da die Grenzen offen sind, setzt
man sich in Deutschland aufs hohe Ross des längst entleerten
Materialbegriffs, um mit einer Arroganz, die man sich objektiv
nicht mehr leisten kann, herabzuschauen auf den unterentwickelten
Osten. Was nicht in den engen Horizont der gepflegten Subventionsavantgarde
passt, gilt als uninteressant.
Es gibt geschichtliche Hypotheken, die man in einen produktiven
Dialog umwandeln könnte. Aber sie werden offensichtlich noch
immer verdrängt. Legt man sich hierzulande etwa Rechenschaft
darüber ab, was es heißt, wenn ein Prager Label eine
CD-Reihe mit „entarteter tschechischer Musik“ veröffentlicht?
Wer hat dieser Musik das Etikett „entartet“ angehängt?
Sicher nicht die Tschechen selbst. Natürlich gibt es diese
Reihen auch in Deutschland. Doch es ist etwas grundsätzlich
anderes, wenn so eine CD in Prag erscheint.
Oder die Jedwabne-Diskussion, die in den westlichen Medien begierig
und nicht ohne Eigennutz aufgegriffen wurde und deren Wahrheiten
inzwischen um einiges relativiert wurden: Wie wirkt es auf eine
Bevölkerung, die von der Ausrottung und Versklavung bedroht
war, wenn die Nachkommen der Täter mit dem Moralfinger auf
sie zeigen? Warum schaut dieselbe deutsche Öffentlichkeit
weg, wenn ganze Dörfer in Westpolen inzwischen wieder fest
in deutscher Hand sind, aufgekauft von denjenigen, die nun fünfzig
Jahre lang umsonst von der Politik die „Rückgabe der
deutschen Ostgebiete“ gefordert haben? Die Brüsseler
Politik, die die Kleinbauern ruiniert, macht’s möglich.
Gute Nachbarschaft? Business as usual.
Das politische Gelände ist noch immer vermint. In musikalischen
Dingen sollte man sich deshalb vor Überheblichkeit hüten.
Ist ein mittel- oder osteuropäischer Komponist erst dann ein
guter Komponist, wenn er die ins Alter gekommene bundesdeutsche
These verinnerlicht hat, Komponieren müsse sich immer selbst
in Frage stellen, wolle es ernst genommen werden? Ist das nicht
eine eminent deutsche Problematik, die mit der von Adorno zum ästhetischen
Thema gemachten Jahrhundertschuld zu tun hat? Müssen sich
die Komponisten in Krakau oder Bratislava, der Klangphobie der
deutschen Avantgarde folgend, stets moralisch am Hinterkopf kratzen,
wenn sie einen Ton zu Papier bringen? Oder müssen sie sich
der Mode des smarten Klangraumdesigns anpassen, um von den großen
deutschen Veranstaltern wahrgenommen zu werden?
Die Liste der Fragen ließe sich beliebig verlängern
und es wäre von Vorteil nicht nur für ein gutes europäisches
Zusammenleben, sondern auch für die eigene Standortbestimmung,
wenn man sie hier zu Lande ernster nehmen würde. Ein Blick
von außen kann nie schaden und vielleicht käme dann
heraus, dass manches an der deutschen Neue-Musik-Szene inzwischen
reichlich alt aussieht. Und wenn sich unsere östlichen Nachbarn
von uns ernsthaft wahrgenommen fühlten, kämen sie wohl
ziemlich schnell darauf, dass das Neue eher im gemeinsamen europäischen
Haus als im Pentagon zu finden ist.