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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 34
52. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Heiner Goebbels und Märzmusik
„Landschaft mit entfernten Verwandten“ und „Aus
einem Tagebuch“
Er ist so etwas wie ein Popstar der ernsten Musik geworden. Da
steht er gefeiert auf der Bühne der Berliner Philharmonie,
Hand in Hand mit Sir Simon Rattle. Heiner Goebbels, Komponist,
Hörspielmacher und Theatermann, hat – so scheint es – seinen
Platz in der Hochkultur der Hauptstadt gefunden. Gleich zwei opulente
Werke waren binnen Monatsfrist in Berlin zu hören und sehen:
die deutsche Erstaufführung der Oper „Landschaft mit
entfernten Verwandten“ im Haus der Berliner Festspiele sowie
die Uraufführung des Orchesterwerkes „Aus einem Tagebuch“ mit
den Berliner Philharmonikern.
Es sind vor allem drei Aspekte,
die des Komponisten schillernden Status im Kulturbetrieb
begründen. Zum einen, dass der Soziologe Goebbels in den Siebzigern seine
Karriere als Mitbegründer des „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ begann
und als Frankfurter Sponti auf eine explizit politisch engagierte Vergangenheit
zurückblicken kann. Zum zweiten, dass der Musiker Goebbels, in Jazz- und
Rockformationen erprobt, seine Ideen stets kollektiv improvisierend entwickelt.
Und nicht zuletzt, dass der Komponist
Goebbels noch nie ein solcher sein wollte, sondern immer eher Arrangeur und
Regisseur seiner Werke, in denen Texte, Musik und Szenerie eine gleichberechtigte
Liaison eingehen. Doch was bleibt von einer politisch-musikalischen Haltung,
wenn der Außenseiter längst als Favorit an deutschen und europäischen
Bühnen gehandelt wird? Wenn einer, der schon immer Werke nur „on
demand“ produzierte, auf einmal vom Genfer Opernhaus oder Simon Rattle
persönlich beauftragt wird? Und wenn die Werke nicht mehr mit der Aura
der Off-Kultur, sondern im Kanon der großen Formen Oper und Orchesterstück
daherkommen? Die beiden jüngsten Aufführungen in Berlin zeugen von
Bruch und Kontinuität: Heiner Goebbels hat sich geändert und nicht
geändert zugleich. Zum Beispiel die Oper, die vom Ensemble Modern und
dem deutschen Kammerchor mit großartiger Perfektion aufgeführt wurde:
Das knapp zweieinhalbstündige Werk ist ebenso wenig oder genau so sehr
eine Oper wie Goebbels Musiktheater zuvor. Gesungen wird in dieser schönen,
poetischen Landschaft kaum, gesprochen dafür umso mehr.
Die schwarz-weiße Szenerie, der zeitweilig rote Lichterschein, die auf
Kostüme und Wände projizierten Ornamente und die Musiker im bewegten
Schattenbild: das alles ist wunderschön und sinnlich beeindruckend wie
eh und je. Gleichzeitig ist „Landschaft mit entfernten Verwandten“ intellektueller
als alle Werke zuvor. Wundersam wandelt zwar die erotisch spröde Stimme
von David Bennent das gesprochene Wort in Musik. Dennoch überlagert die
sprachliche Textur (mit Zitaten von bis) die musikalische. Das liegt an der
Mächtigkeit der assoziativ angerissenen Themen, die von der künstlerischen
und wissenschaftlichen Darstellung des Menschen in der Natur, von der Wahrnehmung
und deren Perspektive erzählen. Auch um Krieg und dessen Lächerlichkeit
geht es, um die Gleichzeitigkeit der Stile und Stimmen in der globalisierten
Welt – vereinzelt war gar vom 11. September die Rede. Insofern spricht
das Werk, wenn auch vermittelt, noch immer von demokratisch kosmopolitischem
Geist. Ästhetisch aber ist die Gestaltung nur wenig kollektiv, sondern
ein wenig monarchischer als vielleicht gewollt.
Von Kontinuität und Brüchen zeugt auch die Uraufführung des
mit Holz- und Blechbläsern, Schlagwerk und Kontrabässen besetzten
Orchesterstückes. Wie schon in früheren Stücken kommt hier dem
Sampler eine besondere Bedeutung zu: als Instrument der Aufbewahrung und Erinnerung,
als elektronisch-akustisches Tagebuch. Goebbels wollte den großen Formen
von Strauss und Beethoven, die an diesem Abend ebenfalls aufgeführt wurden,
bewusst die short cuts seiner Erinnerung entgegensetzen. Das gelingt auf eine
ungeahnt poetische Art. Zwischen den altbekannten orchestralen Mixturklängen,
den durchlaufenden Patterns und plötzlichen Eruptionen der Schlagwerke
schimmern neue elegische Töne hindurch, flirrende Funken der Harfe, melancholische
Melismen der Oboe. Das Tagebuch gleicht einer Filmmusik ohne Film. Doch die
imaginierte Szenerie ist verlassen. Dort, wo die Musik ausdünnt, zeigt
sich eine Leere, in denen kein menschliches Wesen je die Stimme erhebt. Gegenüber
dem uraufgeführten Orchesterwerk „Surrogate Cities“ etwa,
in dem der Klangakrobat David Moss und die Sopranistin Gail Gilmore ihre Stimme
der strengen Struktur des Orchesters subjektiv entgegensetzten, ist der Stil
souveräner und fast ein bisschen schöner, gleichzeitig aber auch
unbelebter worden. Die Musik scheint nicht mehr von Städten und Menschen,
sondern von Industriebrachen und traumhafter Weite zu erzählen. Nun macht
Heiner Goebbels also genau das, was er schon immer getan hat: Gute Musik mit
den besten Leuten, die für seine Sache denkbar sind. Doch sowohl in der
Oper als auch vor allem im Orchesterstück zeichnet sich die Zurücknahme
der kollektiven Produktionsart ab, die für sein Werk stets so fruchtbar
und belebend ist. An Stelle der subjektiven Stimmen und Stile wird ein eigener
Personalstil hörbar. Der gleicht zwar noch immer einem polyphonen Cocktail,
ist in der singulären Perspektive aber fassbarer geworden. Heiner Goebbels
ist Regisseur geblieben und zum Komponisten geworden. Und als solcher ein wenig
einsamer als zuvor.