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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 33-34
52. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Im Ton die ganze Welt
Terterjans „Das Beben“ im Gärtnerplatztheater
Oper heute hat sich immer mit dem Problem ihrer zeitlichen Strukturierung
auseinanderzusetzen. Zeitgenössische Sprachmittel, das lehrt
eine Erfahrung, die bis zum Überdruss am neuen Musiktheater
geführt hatte, vermag nicht Handlung zu transportieren so
wie es die Oper von Barock bis zur Romantik vermochte. Sowohl die
Ausdrucks- als auch die Wahrnehmungskonditionen sind heute andere.
Musiktheaterstücke, die, in welcher Form auch immer, zum Statuarischen
tendieren, stellen sich diesen neuen Bedingungen. Einen neuen,
nachdrücklichen Beweis lieferte Awet Terterjans Oper „Das
Beben“, die nun am Münchner Gärtnerplatztheater
uraufgeführt wurde.
Experimentalbühne
Gärtnerplatztheater: Der Zuschauerraum wird zur Bühne,
das Publikum fand auf der Bühne und in den Rängen
Platz. Foto: Johannes Seyerlein/Staatstheater am Gärtnerplatz
Es ist eine bizarr bittere Geschichte, wie sie nur das Leben
schreiben kann. Heinrich von Kleist notierte sie 1806 nach überlieferten
Berichten und mischte sich damit in eine Debatte über den
philosophischen Sinn von höheren
Schicksalsschlägen ein. „Das Erbeben von Chili“ schildert
die Liebe einer höheren Tochter zu ihrem Hauslehrer. Der erzürnte
Vater schickt sie ins Kloster. Als sie dort ein Kind gebärt werden die
Liebenden ins Gefängnis geworfen. Für die Frau bedeutet der ungeheuere
Vorfall den Tod durch Verbrennen, der zur Enthauptung abgemildert wird. Zur
Zeit der anstehenden Hinrichtung will sich auch der Mann das Leben nehmen.
Ein gewaltiges Erdbeben unterbricht die Ereignisse. Die Liebenden kommen frei,
treffen sich wieder. Ein Gottesurteil? Man kommt bei einem befreundeten Paar
unter, das auch ein Kind hat. Ein Dankgottesdienst für die Überlebenden
steht an. Man findet sich ein, der Priester spricht von den gotteslästerlichen
Ereignissen in der Stadt. Die aufgebrachte Menge erkennt das Paar wieder und
erschlägt es zusammen mit dem falschen Kind, das für den frevlerischen „Bastard“ gehalten
wird. Der armenische, im aserbeidschanischen Baku geborene Komponist Awet Terterjan
(1929–1994) hat Mitte der 80er-Jahre diese Vorlage für ein musikdramatisches
Werk verwendet. Terterjan ist einer jener Komponisten aus der ehemaligen Sowjetunion,
die in den letzten Jahren die Ästhetik der Avantgarde radikal umkrempelten
(zu denken ist daneben an Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Galina Ustvolskaya,
Sofia Gubaidulina, Giya Kancheli, Valentin Silvestrov, Alexander Knaifel und
viele andere). An ihren Werken klebt das Blut existenzieller Auseinandersetzung,
zugleich steckt in ihnen immer wieder eine große, von asiatischer Philosophie
geprägte Ruhe. Terterjan wird sich als einer der wesentlichsten Komponisten
dieser Richtung erweisen. In den letzten Jahren mehren sich Aufführungen
etwa seiner gewaltigen acht Sinfonien, die sich mit radikaler Entschiedenheit
am Klang, am einzelnen Ton festbeißen und nicht gewillt sind, deren Intensität
auch nur eine Spur loszulassen. „Im Ton ist die ganze Welt. Kennen Sie
eine Melodie, die die ganze Welt ausdrücken würde? Den Zustand der
Liebe oder der Freude oder der Trauer? Nein, die gibt es nicht. Aber der Ton
zersplittert in Milliarden Teilchen! In ihm ist alles, wie in einem Fokus.“ Terterjans Überzeugung
fließt mit geradezu gnadenloser Hingabe in jedes seiner Werke. Sie haben
eine unwiderstehliche, nicht nachgebende Sogkraft.
Die Oper „Das Beben“, ursprünglich 1986 für Halle vorgesehen,
bestätigt das auf beklemmende Weise. Dabei wurde die Kleist-Vorlage auf
minimale Schlüsselsätze, Zwischenrufe oder bloße Lautgebungen
kondensiert. Nur das Kräfteparallelogramm Individuum-Masse wurde stehen
gelassen, das Kind (mithin die Ursache für die Inhaftierung) kommt nicht
vor, nicht das befreundete Paar. Terterjan will nur eines aufzeigen: die fortwährende
Restrukturierung der Masse Mensch, die durch das Beben nur kurz aus dem Tritt
kommt, und ihre Feindseligkeit gegenüber dem individuellen Empfinden.
Dass Musiktheater heute nicht in erzählenden Ton verfallen darf, sondern
einzig starke und eindringliche Bilder zu entwerfen hat, ist ihm innerste Überzeugung.
Wer so reduziert, kann Kräfte konzentrieren. Terterjan hat mit dem „Beben“ einen
Pflock in die gegenwärtige Debatte über die Überlebensfähigkeit
des zeitgenössischen Musiktheaters geschlagen, dessen schleichender Tod
immer wieder vorausgesagt wurde. Andere Eckpfeiler sind etwa Lachenmanns „Mädchen
mit den Schwefelhölzern“ oder die musikdramatischen Ansätze
eines Morton Feldman, Salvatore Sciarrino, eines Steve Reich oder einer Adriana
Hölszky. Im Miteinander von Bild und Klang werden Auswege sichtbar.
Terterjan gibt kein Jota nach. Er lässt die zu Beginn aus Glockenklängen
hervorwachsenden Töne bis zu zwanzig Minuten lang aushalten, er baut Flüsterintrigen
oder massenhysterische Flächen, etwa die sich freifressende Gier nach
Leben im Anschluss an die Katastrophe: Vielleicht 1.000 Mal skandiert der Chor
von räderwerkartigen Rasseln begleitet das Wort „Leben“, das
wie ein Krebsgeschwür wuchert. Die Oper ist durchsetzt von quälenden
Langsamkeiten, etwa wenn der Hinzurichtenden mit fanatischem Erniedrigungswillen
die Kleider genommen und die Haare abgeschnitten werden oder wenn die Masse
am Schluss des Stücks immer wieder zeitlupenartig auf die Leiche der Frau
eintritt. Und gleichzeitig gelingt es Terterjan, die emotionale Anspannung
immer am Siedepunkt zu halten. Die Trauer am Schluss, die sirrend durchwobenen
Klangflächen wandeln sich mit dem Unendlichen spielend in klappernde tropfende
Naturgeräusche, lässt im Festhalten kein Entkommen zu. Zeit geben,
sich Zeit zu nehmen heißt aber, dem fatalen Ereignis der individuellen
Auslöschung, dem gesellschaftlichen Beben vor und nach dem Erdstoß,
Würde und Ehrfurcht entgegenzubringen. Momente von begrifflos entsetzter
Andacht, der Raum zur eigenen Innenbetrachtung treten strukturell in die Musik.
Es sind Komponisten wie Terterjan, die der Musik ihre Zeit zurückgeben.
Und mit ihr die Funktion des empfindenden Nachschwingens – ein Gang in
die Tiefe des Klangs. Vielleicht mag jemand hier Einfachheit wahrnehmen. Einfachheit
ist immer hohl, wenn sie über abrufbare Mechanismen mundgerecht bereitet
wird, sie ist aber eindringlich und erschütternd, wenn sie empfunden und
durchlebt ist, wenn sich die kompositorische Durchgestaltung ihr in radikaler
Letztendlichkeit unterwirft. Terterjan lässt daran in geradezu peinigender
Intensität keinen Zweifel.
Das Gärtnerplatztheater hat ganze Arbeit geleistet. Zur
souveränen
Leitung durch Ekkehard Klemm (der seinerzeit schon die Aufführung in
Halle bestreiten sollte), zu einer hochwachen Leistung der im Zuschauerraum
verteilten Chöre,
zur intensiven Verkörperung von „Sie“ und „Er“ durch
Ruth Ingeborg Ohlmann und Wolfgang Schwaninger, trat eine Regiearbeit
durch Claus Guth, die den Theaterraum sinnfällig zur Arena
aufbrach. Die Masse glotzt, in diesen Zustand wurde das auf den
Rängen und auf der Bühne verteilte Publikum versetzt.
Das Parkett war Spielfläche für die Musiker mit eindrucksvoller
Schlagwerkbesetzung (darunter vier überdimensionale Trommeln)
und – auf vier tischartigen Flächen – für
die sparsamen Aktionen.
Masse Mensch wurde neben dem Chor abstrakt verkörpert durch
eine Großkopfmaske, die mit artigem Scheitel von einem Geschäftsyuppie
in der Vip-Lounch eines internationalen Flughafens abgenommen schien.
Das Erbeben hatte in den schon bei den Hinrichtungsvorbereitungen
voyeuristisch gaffenden Kopf blutige Löcher geschlagen, aber
dann rekonstruierte sich die Maske, mithin die gesichtslose Masse,
zu noch desolaterer Brutalität. Die Kirche gibt letztlich
in archaisch unberührbarer Größe ihren Segen dazu.
Eine Musik, die keine Ausreden, kein Abkehren zulässt
Das Publikum, das wohl auch im thematisierten Individuum-Masse-Widerspruch
Parallelen zur gegenwärtigen Kriegs- und Propagandasituation
beklemmend herstellte, war größtenteils von der Kraft
und der charakteristischen, unverwechselbaren Eigenart der Musiksprache
Terterjans überwältigt. Es war Musik, die in ihrer
niederdrückenden Anklage und im radikalen, sowohl asketischen,
wie bedrängend massiven Einsatz der Sprachmittel keine Ausreden,
kein einfaches Abkehren zuließ. Stellungnahme wurde, wie
etwa in Lachenmanns „Mädchen“, in Nonos „Al
Gran Sole“ erzwungen. Ein Kunstwerk, das nicht loslässt.