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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 35
52. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Die antike Rachefurie oder Erbarmen mit den Frauen
Michèle Reverdys Oper „Medée“ nach einer
Erzählung von Christa Wolf wurde in Lyon uraufgeführt
Die Kunstform Oper, so will es scheinen, kommt von den großen
Figuren und Ereignissen der Menschheitsgeschichte nicht los. Speziell
die Antike bietet einen unerschöpflichen Fundus an tragisch
umdüsterten Gestalten, die es auch heute lebenden Künstlern
gestatten, eigene Befindlichkeiten und Sichtweisen in das jeweilige
Vorbild zurück- und hineinzuprojizieren. Die französische
Komponistin Michèle Reverdy, im Jahre 1943 in Alexandria
geboren, will da keine Ausnahme bilden: Sie blickt mit ihrer neuesten
Oper zurück auf Medea, die mythische Zauberin, die zur Rachefurie
wird, Nebenbuhlerin und die eigenen Kinder tötet: Das Weib
als Projektion einer aus Urgründen gespeisten Kraft.
Oper mit Kino: Regisseur
Raoul Ruiz filmte für seine Inszenierung von „Medée“ antike
und heutige Ansichten der Originalschauplätze. Foto:
Gérard Amsellem
Das Ungeheuerliche der Tat, dieÜbergröße der mythischen
Figur rief in der unendlichen
Folgezeit immer wieder Dichter und Musiker zur Beschäftigung mit der Medea-Gestalt
auf – bis zum heutigen Tag. Christa Wolf adaptierte den Stoff für
ihre monologische Erzählung „Medea Stimmen“: wie schon in
ihrem „Kassandra“-Monolog der Versuch, die überdimensionalen
Figuren des Mythos durch Psychologisierung in das soziale und gesellschaftliche
Umfeld der Gegenwart zu überführen: die Frau als Dulderin, Leidende,
als vom Mann unterdrücktes Wesen. Ihre Rache mutiert zur seelischen Notwehr.
Diese zwangsläufige Verkleinerung des Figurenformats entspricht der Ästhetik
des bürgerlichen Zeitalters. Schon Stendhal beklagte (im neunzehnten Jahrhundert)
die Unfähigkeit seiner Zeit zur großen Tat, die nicht nach moralischen
Kategorien fragt. Shakespeare war vielleicht der Letzte, der diese große
Tat noch auf dem Theater zu imaginieren vermochte. Medea heute aber erscheint
in ihrem Leiden als Zeitgenossin unserer Fernsehmoderatorinnen, die von ihren
Männern versetzt und von der Medienwelt getröstet werden. Unser Gefühlsbiedermeier
vereinnahmte Medea, Kassandra und andere. Und ältere Herren plädieren
in der Oper für
einen „Freispruch für Medea“ (Name: Rolf Liebermann).
Auf dieser nivellierten Ebene ereignet sich auch die vorerst
letzte Opernbeschäftigung
mit „Medea“. Die Französin Michèle Reverdy, die schon
mehrere Werke für die Bühne komponierte, adaptierte die Erzählung
Christa Wolfs für ihre „Medée“, die jetzt an der Oper
von Lyon uraufgeführt wurde. Die elf Monologe der Vorlage wurden von Kai
Stefan Fritsch und Bernhard Banoun in elf dialogische Szenen umgeformt, die
als dramaturgisches Ergebnis eher ein szenisches Oratorium denn eine Handlungsoper
ergaben. Michèle Reverdy stattete die Sänger mit einem leicht monochrom
wirkenden vokalen Gestus aus. Aus dem Orchester – souverän und einfühlsam-expressiv
dirigiert von Pascal Rophé – vernimmt man eine Musik, die weniger
die Szenen und Situationen begleitet, als vielmehr bestrebt ist, eine eigenständige
Gestalt zu gewinnen, gleichsam als Kommentar zu den Vorgängen auf der
Bühne. Orchesterfarben, rhythmische und motorische Akzente, fein ausgearbeitete
Klangstrukturen und eine flüssige Beweglichkeit im musikalischen Vortrag
präsentieren sich sowohl dramaturgisch funktional als auch autonom in
Ausdruck und Gestik. Ein dezent gesetzter Leidens-Tonfall am Ende verrät
schließlich doch noch die spontane innere Beteiligung am Leid der Medea.
Die Inszenierung von Raoul Ruiz (Regie, Bühnenbild, Licht) verlässt
sich vor allem auf die Großprojektionen von antiken Tempeln und Landschaften.
Heutiges Leben zeigt sich vor allem in vielen fahrenden Autos. Etwas schlicht
ist die szenische Umsetzung schon geraten. Man könnte sich auch Bilder
vorstellen, die etwas von den inneren Dimensionen der alten Medea-Gestalt optisch
ins Spiel gebracht hätten. Die Sänger agieren vorwiegend statuarisch:
Mimik, Gestik, kleine Gänge beleben die Figuren ein wenig. Die Medée
der Francoise Masset sieht blendend aus, singt engagiert, manchmal etwas schmal
im Ausdruck. Dass sie dem ziemlich unbeweglich agierenden Langweiler Jason
von Jean-Louis Serre nachtrauert, erscheint kaum glaubhaft. Sehr intensiv und
vokal ausdrucksvoll präsentiert Magali Léger die Medea-Konkurrentin
Glaucé.
Trotz des etwas unentschiedenen Eindrucks, den Reverdys „Medée“ bei
der Uraufführung hinterließ, würde man gern auch andere Bühnenwerke
der Komponistin in Deutschland kennen lernen – „Das Schloss“ nach
Kafka oder „Jagdgewehr“ nach Yasushi Inoue. Immerhin konnte man
Reverdys Lenz-Veroperung vom „Hofmeister“ bei Henzes Münchner
Biennale anno 1990 kennen lernen: Ein sehr dicht und spannungsvoll komponiertes
Werk, dessen expressive Energien die „Medée“ nur punktuell
erreicht.