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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 4
52. Jahrgang | April
Cluster
Ideenverkäufer
Alexis de Tocqueville, der große französische Soziologe,
schrieb in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein faszinierendes
Buch „Über die Demokratie in Amerika“. In einem
Abschnitt geht es um die gerade entstehende Literaturindustrie.
Unter anderem heißt es dort: „Die demokratischen Literaturen
wimmeln immer von diesen Autoren, die die Literatur nur als Geschäft
betrachten und wenn auch unter ihnen einige große Schriftsteller
sein mögen, zählt man doch Tausende von Ideenverkäufern.“
Was
in der Literatur festgestellt wurde, gilt noch viel mehr für
die Musik der Gegenwart. Schaut man sich einmal an, was heute so
alles unter Musik läuft, so findet man fast nur Geschäftsmusik.
Dass Musik allein im Sinne des Warenbegriffs verstanden wird, ist
zwar nichts Neues. Relativ neu ist jedoch, dass grundsätzlich
Ware vor Ästhetik geht und in öffentlichen Debatten
zum „common
sense“ geworden ist. Dass dies auch eine demokratisch legitimierte
Form des Kultur-Krieges ist, zeigt sich schon in der Bezeichnung
der Hörer, die man ins Visier nimmt: Man bezeichnet sie schlicht
als „Zielgruppen“. Man trifft sie über die zeitgeistgeschulten
Ohren an der Geldbörse. Und damit schließt sich der
Kreis. Musik wird zur tönend bewegten Form von geldwertem
Kapital.
So haben Karl Marx und Friedrich Engels doch noch verspätet
und unverhofft Recht bekommen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
In dieser Lage Initiativen über den Wert der Kreativität
zu arrangieren, muss auf die Zielgruppen wie ein schlechter protestantischer
Witz aus den Moralkellern der Musikindustrie wirken – nämlich
unglaubwürdig und weltfremd. Wo das Geld regiert, ist kein
Platz für Kreativität.