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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 24
52. Jahrgang | April
Hochschule
Musik nachdenken
Zur Interpretation als Hochschulfach
Die „Tage für Interpretation und Aufführungspraxis“ sind
an der Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater mittlerweile
schon Tradition. Kurz vor Beginn des Wintersemesters unterrichtet
dort alljährlich ein Team aus Professoren des Hauses und renommierten
Musikerinnen und Musikern von außerhalb. Das Wort „Aufführungspraxis“ wird
dabei in Saarbrücken nicht hauptsächlich mit Alter Musik
assoziiert, sondern im umfassenden Sinne verstanden. Unter den
Dozentinnen und Dozenten sind viele, die sich auch gerade mit Neuer
Musik einen Namen gemacht haben.
Bernhard König und
Studierende bei der Workshop-Arbeit. Foto: HMT
Für Studierende der Saarbrücker Hochschule ist die
Teil nahme kostenlos, Auswärtige
zahlen eine Gebühr. Anders als bei herkömmlichen Meisterkursen können
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei jedem der Lehrenden Unterricht nehmen;
so gehen etwa auch Sängerinnen zum Pianisten, Pianisten zur Geigerin,
Bläser zum Komponisten, Streicher zur Sängerin. Daneben gibt es Sonderveranstaltungen,
Vorträge oder Workshops zum jeweiligen Jahresthema des „Netzwerks
Musik Saar“, eines Zusammenschlusses engagierter Musikförderer,
der die Tage zu einem beträchtlichen Teil mitträgt. Thema kann zum
Beispiel ein Komponist sein, wie 2001 Schönberg und 2003 Nono. Weitere
Themen waren in der Vergangenheit etwa „Musik als Einspruch“ oder „Musik
und Körper“.
2002 waren die Tage mit „Junge Ohren“ überschrieben und richteten
sich damit erstmals auch an Studierende musikpädagogischer Studiengänge.
Eingeladen war unter anderem der Kölner Komponist Bernhard König,
der als Mitarbeiter des Kölner Büros für Konzertpädagogik
und als freier Komponist ungewöhnliche Wege der Musikvermittlung beschreitet
und unter anderem mit Schulklassen arbeitet. Bei einem von König geleiteten
Round Table zum Thema „Experimentelle Gebrauchsmusik“ wurden Tendenzen
der gegenwärtigen Musikkultur durchaus kontrovers diskutiert. Daneben
stellte König in einem Workshop Ergebnisse seiner Arbeit, die er auf Video
und CD präsentierte, zur Diskussion. Schließlich wurden zeitgenössische
Stücke aus dem Kursprogramm von Studierenden für Grundschulkinder
als Konzert gestaltet. Dafür suchten Bernhard König und Michael Dartsch
mit den Studierenden nach unkonventionellen Zugängen und Vermittlungsformen.
Was auf den ersten Blick als Fremdkörper im Kurskonzept wirken könnte,
erweist sich im Sinne eines erweiterten Verständnisses von „Aufführungspraxis“ als
bedeutsames Element in der Ausbildung von zukünftigen Musikprofis. So
geriet die Aufführung eines Vokalwerkes für die Komponistin, eine
Studentin des Hauses, zum Aha-Erlebnis. Nachdem sie im Unterricht zunächst
skeptisch auf eine spielerisch-szenische Einleitung reagiert hatte, ließ sie
sich dennoch darauf ein. Es ging darum, Kinder mittels einer für sie
unbekannten Sprache dafür zu öffnen,
dass auch Sprachelemente zum musikalischen Material werden können. Im
Kinderkonzert schließlich erreichte die junge Frau die Kinder auf diesem
Wege sehr direkt und erfuhr mit ihrem Werk begeisterte Zustimmung.
Neben dem
Kursunterricht und den thematisch gebundenen Sonderveranstaltungen prägt ein drittes Element die „Tage für Interpretation und
Aufführungspraxis“: Es sind dies die Interpretationsseminare, die
sich an alle Teilnehmenden und Lehrenden richten. Jeweils ein Werk wird von
Kursteilnehmern gespielt, das Plenum diskutiert ausgehend von der Partitur
anschließend Interpretationsansätze, die sofort erprobt und wiederum
diskutiert werden können. Das passt insofern in das Konzept der Tage,
als die Studierenden hier nicht auf eine vom Meister bevorzugte und legitimierte
Interpretation eingeschworen werden, sondern mit verschiedenen Persönlichkeiten
in Kontakt kommen und ihren Horizont erweitern sollen.
Der Grundgedanke, dass Studierende auch über Interpretationsfragen nachdenken
und sprechen sollten, hat an der Saarbrücker Hochschule vor einigen Jahren
sogar zur Einführung eines neuen Faches geführt, das den Namen „Grundlagen
der Interpretation“ oder neuerdings „Aufführungspraxis“ trägt
und genauso wie die Interpretationsseminare bei den „Tagen für Interpretation
und Aufführungspraxis“ angelegt ist. Den entsprechenden Unterricht
hält der Pianist Stefan Litwin ab, der auch die „Tage für Interpretation
und Aufführungspraxis“ künstlerisch leitet und in Saarbrücken
eine Professur für Kammermusik, Neue Musik und eben Interpretation innehat.
Die Ziele und Inhalte des Hochschulfaches „Interpretation“ verdeutlicht
das folgende Gespräch mit ihm:
Dartsch: Was sind die Inhalte des Faches „Grundlagen der Interpretation“ und „Aufführungspraxis“?
Litwin: Da man nicht davon ausgehen kann, dass die meisten Studenten
die Quellen kennen, aus denen die interpretatorischen Entscheidungen
hergeleitet werden
können, hat dieses Fach sich zur Aufgabe gestellt, sozusagen zusammenfassend
die wichtigen Ressourcen der Interpretation darzulegen, zum Beispiel die Violinschule
von Leopold Mozart, die Klavierschule von Daniel Gottlieb Türk, bis hin
zu Sekundärquellen, die sich auf bestimmte Werke einzelner Komponisten
beziehen. Wenn es zum Beispiel bei Beethoven um das Tempo geht, ist es hilfreich,
dass man auch Beethovens Schüler Czerny als Quelle kennen lernt – neben
weiteren wie der Arbeit von Rudolf Kolisch. Solche Elemente fließen in
den Unterricht ein, um den Studenten eine Grundlage zu verschaffen, die dann
in ihrer eigenen Arbeit eingesetzt werden kann.
Dartsch: Wie würdest du das Verhältnis beschreiben zwischen diesem
Fach und dem Hauptfachunterricht? Ist das ein eher problematisches oder ein
sich ergänzendes? Es könnte ja vielleicht manch einer denken: Das
sind doch Inhalte des Hauptfachunterrichts.
Litwin: Es wäre sicher wünschenswert, dass es Inhalte des Hauptfachunterrichts
wären. Leider hat man wohl im Hauptfachunterricht oftmals neben den eher
technischen Inhalten aber nicht mehr genügend Zeit für Interpretationsfragen,
die doch eine eingehende Analyse erfordern würden. Manchmal dienen deshalb
die großen Interpreten als Anhaltspunkt, so dass sich
Studierende dann etwa die Aufnahmen von Brendel oder Pollini anhören,
um daraus abzuleiten, wie gewisse Werke zu spielen sind. Das ist für mich
nicht der richtige Weg. Für einen mündigen Interpreten müsste
der Zugang sein, sich aus der Quelle, der Partitur selbst, eine Interpretation
herzuleiten, die einem eigenen Bilde und vor allem dem „neuesten Stand“ entspricht.
Dartsch: Was hat damals an der Hochschule dazu geführt, dass man ein solches
Fach etabliert hat?
Litwin: Ich glaube, vielerorts gibt es die Problematik mangelnder
Kommunikation zwischen den Fakultäten. So arbeiten etwa die Musikwissenschaftler nicht
mit den Musikern zusammen und die Musiker nicht mit den Musikwissenschaftlern.
Wir haben Berührungsängste auf beiden Seiten. So war es erforderlich,
einmal eine Professur einzurichten, die dieser Tendenz entgegenarbeitet. Somit
waren wir wirklich, wie ich glaube, die erste Hochschule, wenn wir nicht sogar
immer noch die einzige Hochschule sind in Deutschland, die eine solche Professur
eingerichtet hat – mit allen Problemen, die das mit sich führt,
also Probleme der Integration eines solchen Faches in jene Fachbereiche, die
die Interpretation normalerweise für sich beanspruchen.
Dartsch: Wie ist dein eigener Zugang zu diesem Fach? Wie hat
sich aus deiner eigenen Biographie so etwas wie dieses spezielle
Interesse herausgebildet,
das dich für ein solches Fach qualifiziert und prädestiniert?
Litwin: Ich fasse mich als Allround-Musiker auf – und nicht nur als Pianist.
Ich komponiere, ich denke über Musik nach, ich spiele Musik anderer. Obwohl
sich eigentlich die Mehrheit der Musiker spezialisiert hat, halte ich diese
Kombination für eigentlich zeitgemäßer. Die großen Komponisten
waren gleichfalls Instrumentalisten. Man denke nur an Mozart, Beethoven oder
Brahms. Eine Trennung gab es nicht. Und ich glaube, dass diese Trennung einerseits
erforderlich wurde durch die Spezialisierung und Radikalisierung der verschiedenen
Teilbereiche, aber ich glaube, dass sie eben auch ein atomistisches Denken
eingeführt hat, das zerstörerisch wirkt. Und gegen diese destruktiven
Impulse möchte ich mich durch meine eigene Arbeit angehen, denn ich denke,
die Aneignung der verschiedenen Aspekte – des Komponierens, des Interpretierens
und des wissenschaftlichen Arbeitens – geht einher mit dem unverzichtbaren
Gesamtüberblick. Dann stellen sich nämlich die einzelnen Entscheidungen
eben auch anders dar, als wenn man nur aus einer Perspektive heraus handelt.
Ich lerne sehr viel vom Komponieren fürs Interpretieren. Ich lerne viel
vom wissenschaftlichen Arbeiten fürs Komponieren oder fürs Interpretieren.
Das ist eine Wechselbeziehung, ohne die ich gar nicht arbeiten könnte.
Es hat sich deshalb für mich nie die Frage gestellt, nur eine Sache zu
machen und die anderen zu lassen, sondern für mich war es eine Selbstverständlichkeit,
integrativ zu arbeiten.