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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 12
52. Jahrgang | April
Kulturpolitik
Die Pferdestärke am Karren Klassik
Simon Rattle und die Wiener Philharmoniker mit Beethoven · Von
Christoph Vratz
Auf Frau Shuttle ist Verlass. Von ihrem Kölner Schreibtisch
aus hatte sie alles geregelt. Wien, 10 Uhr 20. Der bestellte Taxifahrer
ist pünktlich, Flug 4U 752 ebenfalls. „Geben’s
mir des Sackerl“. Per Fernbedienung öffnet er den Kofferraum,
lädt ein und braust los. Die Geschwindigkeitsgebote zwischen
Schwechat und Zentrum interessieren ihn nicht. Gegenüber der
Staatsoper macht er Halt, entlässt seine drei Fahrgäste
und verschwindet zurück in Richtung Schwechat. Beim Portier
wird gleich wieder ein Sackerl ausgehändigt, knallrot bedruckt
und versehen mit den drei Buchstaben der einladenden Plattenfirma.
Ein Carepaket für die nächsten zwei Tage. Mappe, Papier,
CD-Box, DVD – und überall schaut uns Sir Simon entgegen.
Dazu in Großlettern: „Beethoven. Symphonies“.
Sir Simon. Foto: EMI/Simon
Fowler
Noch bevor sich die Berliner dazu entschlossen hatten, Simon Rattle
als Chef ihrer Philharmoniker zu inthronisieren, hatte dieser sich
bereits mit den Wienern darauf geeinigt, sämtliche Symphonien
Beethovens zu erarbeiten. Bereits bei den Salzburger Festspielen
1996 hatte die Expedition mit der „Pastorale“ begonnen.
Mit eben dieser „Pastorale“ sollte das Projekt im März
2003 abgeschlossen und Vertretern von Presse und Handel präsentiert
werden, eine Zweihundertschaft, eingeflogen aus Japan, den USA
und natürlich aus Europa. Doch am ersten Tag blieb der Maestro
unsichtbar. Zeit also, um sich den Türschildchen im Hotel
zu widmen. Toscanini wohnte im dritten Stock, eine Etage tiefer
logierten die Herren Mahler, Schalk und Böhm. Irgendwo steht
auch Lorin Maazel angeschlagen. Hier ist die Welt zu Hause. Auf
einmal biegt Peter Alward um die Ecke, Präsident von EMI Classic.
Er lächelt, britisch, vornehm, herzlich. Schließlich
sind wieder einmal alle gekommen, um sein wertvollstes Pferd im
Stall zu beäugen. Simon, der Telegene, der „charming
musician“, Evangelist einer ganzen Branche. Alward glaubt
fest daran, dass einer wie Rattle dazu beitragen kann, den rumpelnden
Karren Klassik wieder aus dem Graben zu ziehen. „Von ihm
geht etwas aus wie seinerzeit von Karajan“. Die Leute seien
verrückt nach ihm – und
in Berlin könne man in den Warteschlangen für Retourkarten „immer
mehr jüngere Leute“ entdecken.
Ausgerechnet dieser Querdenker und Aufrührer, dieser Experimentierer,
der den Broadway und Jazz genauso in sein musikalisches Herz geschlossen
hat wie Schönberg und Mahler, er präsentiert nun – ganz
klassisch – die neun Beethoven-Sinfonien. Ob das mal gut
geht? Der Abend bietet hinreichend Gelegenheit, die Situation zu
erörtern: bei der „20er Marie“ in der Ottakringerstraße,
im Heurigen außerhalb der Stadt, bei Hax’n und Krautsalat.
Dafür haben sogar zwei Kollegen glatt den letzten „Rosenkavalier“-Akt
sausen lassen, trotz ihrer Begeisterung für Marschallin Felicity
Lott.
Am Sonntag, 11.25 Uhr, ist zur Pressekonferenz geladen. Bereits
beim Frühstück wird Pünktlichkeit angemahnt. Das
Programm sei eng. Wie also mag Rattle seinen Zugang zu
Beethoven erklären? Ganz nüchtern. Er sei „sehr überrascht“ gewesen,
als man ihm ausgerechnet dieses Projekt angeboten habe. „Meine
erste Antwort war: ,Seid ihr verrückt?’“ Doch
die Motive des Orchesters hätten ihn überzeugt. „Es
ist die Idee, dass jedes gute Orchester ständig versucht,
sich selbst zu erneuern und etwas zu finden, was außerhalb
des eigenen Horizonts liegt.“ Die Wiener hungerten also nach
Neuem. Doch steckt dieser Beethoven nun in frischem Lack? Auf jeden
Fall wollte Rattle keine Musik fürs reine Wohlbefinden. „Wenn
man sich beim Spielen einer Beethoven-Sinfonie völlig zufrieden
fühlt, ist man bereits am Ziel vorbei geschossen.“ Unebenheiten,
Stolpersteine wollen hörbar gemacht werden. Dafür hat
Rattle einen eher kammermusikalischen Weg eingeschlagen. „Mein
erster Bezugspunkt führte zu Karl Böhm, der die Sinfonien
mit diesem Orchester wahrscheinlich am häufigsten dirigiert
hat. Zu meiner Verblüffung ist Böhm der rhythmisch striktere
Dirigent; oft musste ich die Holzbläser ermutigen, Phrasen
flexibler, selbstbewusster zu gestalten.“ Prompt stellt sich
die Frage nach der Verlässlichkeit von Beethovens Metronomvorgaben.
Rattle bestätigt und widerlegt. Schließlich habe Beethoven
auch darauf hingewiesen, dass jedes Gefühl sein eigenes Tempo
hat. Außerdem müsse er sich nach den Randbedingungen
richten, etwa nach den zur Verfügung stehenden Instrumenten
und dem Klang des Raumes.
Im Nachbarraum gibt’s anschließend ein Meet-and-Greet
mit dem Maestro, ein Guck und Schluck, bevor dieser sich zum Konzerthaus
verabschiedet. Dort ist am frühen Nachmittag Probe. Doch Beethoven
muss erstmal warten, die Noten lagern irrtümlicherweise im
Musikvereinsgebäude. Ohnehin hält die Probe nicht viel
Nennenswertes bereit. Die Hörner verstricken sich dauerhaft
im Intonationsnetz, die Flöte näselt seltsam. Rattle
hakt hier und dort nach, bessert auf, zu drei Viertel englisch,
ein Viertel deutsch. „Pastorale“ – Arbeit nach
Vorschrift. Während der Pause im Schubert-Saal klingeln schon
wieder die ersten Handys. Die Redaktion in Tokio plant bereits
für den nächsten Tag. Was soll die nachfolgende Aufführung
noch ans Licht bringen?
Sie wird zum exemplarischen Ereignis. Sie fördert zutage,
was über Jahre hinweg gewachsen ist. Bereits im Vorfeld der
im Mai 2002 im Musikverein mitgeschnittenen Live-Einspielungen
hatten Rattle und die Philharmoniker den Sinfonien-Zyklus in Berlin
und Japan aufgeführt. Es ist dieser Spagat zwischen Freiheit
und Pedanterie, zwischen Notendeutung und Notentreue, der diese
Aufnahmen prägt. Der natürliche Atem und die Fähigkeit,
Stimmungen zu erzeugen oder diese übergangslos zu transformieren,
nähren den Verdacht, dass derzeit kaum ein Gespann Beethoven
mit so viel Tiefsinn und Spiellust begegnen dürfte. Ebenso
wird hörbar, wie sehr die Bemühungen der historischen
Aufführungspraxis Pate gestanden haben. Doch daraus ergibt
sich kein Mosaik aus epigonalen Versatzstücken, sondern eine
in sich stimmige, aufregende, stets transparente und gleichermaßen überlegte
wie spontane Beethoven-Deutung.
Eine Stunde später sieht man in Schwechat im Gewirr ein „Sackerl“ blinken,
knallrot und mit drei Buchstaben. Ah, noch jemand aus der Runde.
Aber na, des is doch der Simon. Auch er ist jetzt also im Besitz
der neuen Beethoven-Box.
Christoph Vratz
Beethoven: Sinfonien 1–9; Wiener Philharmoniker, Simon
Rattle (2002).
EMI 5 CD 557 445