[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 1
52. Jahrgang | April
Leitartikel
Das Musikleben fährt am liebsten Rutschbahn
Einige Beobachtungen in einer berühmten Musikstadt · Von
Gerhard Rohde
Neulich sprach uns in München Herr B. an. Freundlich, mit
mildem Blick. Herr B. stand auf dem Gärtnerplatz vor dem dort
befindlichen gleichnamigen Theater. Er hielt eine Liste in der
Hand und einen Kugelschreiber und fragte bescheiden – nein,
nicht nach einer Geldspende. Ob man vielleicht bereit sei, eine
Unterschrift zu „spenden“, für den Erhalt „seines“ Orchesters – er
ist nämlich, wie sich im folgenden Gespräch herausstellte,
Konzertmeister bei den Münchner Symphonikern, die früher
einmal als Kurt-Graunke-Orchester firmierten.
Die Stadt München, genauer die
herrschende politische Mehrheit inklusive ihrer regierenden
Repräsentanten um den Oberbürgermeister Christian Ude, mag die Symphoniker
nicht mehr unterstützen. Im nächsten Jahr soll der Zuschuss um 280.000
Euro abgesenkt werden, in der Spielzeit darauf wird auch der Rest von den bisher
geleisteten rund anderthalb Million Euro Subvention entzogen. Das bedeutet
das Ende des Orchesters, das 30 Prozent seines Etats selbst einspielt, 40 Prozent
weiterhin vom Freistaat Bayern erhalten würde und dann auf die 30 Prozent
von der Stadt verzichten müsste – was nicht zu verkraften wäre.
Leidtragende wären nicht nur die sechzig hoch qualifizierten Musiker des
Orchesters, mehr noch träfe das die vielen Musikfreunde in Stadt, Region
und bayerischem Land, die den rund hundert Konzerten, die das Orchester in
der Saison gibt, eine Platzausnutzung von neunzig Prozent sichern. Es ist ein
sehr treues, musikverständiges Publikum, das sich mit „seinem“ Orchester
auch innerlich verbunden fühlt – ein traditionsreiches Stück
bürgerlicher Musikkultur eben, das einer Musikstadt wie München nicht
nur gut ansteht, sondern Teil der kulturellen Identität darstellt. Dass
dieses Orchester auch immer wieder zu internationalen Tourneen eingeladen wird,
nach Japan, nach Südamerika, sei für diejenigen erwähnt, die
in ihrer Ignoranz womöglich glauben, es handle sich bei den Symphonikern
um eine Art Liebhabervereinigung mit kratzenden Bratschen und kicksenden Hörnern.
Die japanischen Musikfreunde wissen es wohl besser als einheimische selbst
ernannte Kulturpolitiker.
Letztere erhielten jetzt, gleichsam als Strafe für die „symphonische“ Niedertracht,
eine „philharmonische“ Nuss zu knacken. Nachdem sie ihr Renommierorchester,
die Münchner Philharmoniker, schon bei der Verpflichtung des derzeitigen
Chefdirigenten James Levine finanziell bis aufs Blut gequält hatten,
scheint sich das Spielchen jetzt bei der Levine-Nachfolge zu wiederholen.
Neo-Furtwängler Christian
Thielemann – natürlich kann nur er es sein, auch wenn man sich
den umschwärmten Maestro mit der Deutschen Oper in Berlin teilen muss – verlangt
zwar etwas weniger als der millionenschwere Levine (ist ja auch noch etwas
jünger), doch möchte sich Jungstar Thielemann gegen denkbare kulturpolitische
Winkelzüge und künftige Niederträchtigkeiten vertraglich absichern.
Die aufgestellte Falle für die Stadt würde so funktionieren: Beschließt
München, die Orchesterstärke der Philharmoniker aus finanziellen
Gründen auf unter 120 Musiker abzusenken, erhielte Chef Thielemann das
Recht, aus seinem von 2004 bis 2011 laufenden Vertrag vorzeitig auszusteigen.
Von seinen Gagen bis 2011 erhielte er als Abfindung das so genannte Fixum,
den Grundbetrag für den Dienst als Chef, zu dem dann die Honorare für
die einzelnen Konzerte kämen, die natürlich bei vorzeitiger Kündigung
wegfielen. Aber auch das Fixum würde sich zu einem hübschen Sümmchen
addieren, mit dem die Münchner Symphoniker einem Gutteil ihrer Sorgen
enthoben wären.
Man erkennt unschwer an allem, dass Kulturpolitik kein leichter Job ist,
vor allem dann nicht, wenn man keinen Überblick besitzt und sich besinnungslos
dem name-dropping hingibt, für das besonders traditionsbeladene Sinfonieorchester
wie die Philharmoniker in München ein Faible besitzen. Dass sich wiederum
Promi-Künstler gegen denkbare Anmaßungen der Kulturpolitik absichern,
kann man ihnen nicht verdenken – der schlechten Beispiele gäbe es
viele. Unabhängig davon, ob man sich nun in München mit Thielemann
einigt oder nicht – der Vorgang vermittelt auch bei abstrakter Betrachtung
ein Lehrbeispiel für das Funktionieren des gegenwärtigen Musikmarktes:
Der „Big Name“ soll viele Auftritte, weite Reisen, Schallplattenaufnahmen
(derzeit nicht sehr einträglich), Festspielrepräsentanz, Sponsorengelder
garantieren. Die Musik darf dazu die Begleitung liefern, und wenn einer auf
dem Primat der Musik beharrt, dann ergeht es ihm womöglich wie den Münchner
Symphonikern, die keinen Promi-Dirigenten besitzen und keinen Sponsor, nur
ein musikliebendes Publikum.
P.S. In diesen Tagen und Wochen erlebt man in unseren Landen,
also auch in Bayern und München, wieder die Wettbewerbe von „Jugend
musiziert“.
Der Ansturm musikbegeisterter, musikversessener Jugendlicher war so stark
wie kaum je zuvor. Ein Hoffnungszeichen? Vielleicht? Sicher?? Nur
schade, dass
es womöglich keine Orchester mehr geben wird, wenn diese jungen Musiker
eines Tages an die Tür eines Orchesterbüros klopfen sollten: Wegen
Orchesterauflösung geschlossen. Wegen Einstellungsstopp kein Vorspiel.
Wozu die ganze Begeisterung vorher, der Einsatz, das Streben zur Perfektion?
Das derzeitige Musikleben ist – um es mit dem Schlusssatz von Wedekinds
Marquis Keith zu sagen – eine Rutschbahn. Da helfen auch kein Rattle,
kein Thielemann, keine Philharmoniker. Vielleicht die Komponisten, die noch über
die Zukunft der Musikinhalte nachzudenken vermögen.