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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 7
52. Jahrgang | April
Musikwirtschaft
An der Ruhr von Kulturpessimismus keine Spur
Saalbau Essen: Abstimmung statt Alleingang · Von Martina
Schürmann
Wer in diesen Tagen das Essener Musikleben Revue passieren lässt,
könnte durchaus interessante Rückschlüsse ziehen.
1904 schwang sich die aufstrebende Industriestadt zum ersten Mal
auf, nicht nur die heimische Bevölkerung mit „gediegener
Instrumentalmusik“ und Gartenkonzerten zu erfreuen. Mit der
Eröffnung des Essener Saalbaus als Konzerthaus wuchs ab 1904
auch die Bedeutung und das Renommee der Stadt, wo nun Richard Strauss
seine „Sinfonia domestica“ dirigierte, Gustav Mahler
die Uraufführung seiner 6. Sinfonie leitete und das Konzertwesen
ab sofort florierte. Genau 100 Jahre später will man an historischer
Stelle nun an die glanzvollen Zeiten anknüpfen und das Konzert-publikum
im Einklang mit den Spielstätten in Stadt und Region erneut
erobern. Wenn Essen im Sommer 2004 die Einweihung des neuen Konzertsaals
im altehrwürdigen Saalbau feiert, dann soll sich zeigen,
dass die Verbindung einer 100-jährigen Tradition mit dem baulichen
wie akustischen Sprung ins neue Jahrtausend an Ort und Stelle beispielhaft
gelingen kann.
Eines soll im Saalbau hingegen
beim Alten bleiben: die Offenheit für unterschiedliche Belange und die
Bereitschaft zu Abstimmung und Kooperationen, die im dichtbesiedelten Ruhrgebiet
mit seinen zahllosen
Kultureinrichtungen wohl immer wesentlicher
erscheinen. Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann plädiert in diesem
Zusammenhang für einen unverkrampften Umgang mit der Kultur. Der Konzerthaus-Chef
will nicht im Elfenbeinturm verweilen, sondern Partner suchen, wo wirtschaftlich
nötig, und Mitspieler finden, wo inhaltlich möglich. Ein Konzerthaus,
so Kaufmann, könne auch die Funktion eines Katalysators für kulturelle
Prozesse übernehmen. Stadt und Region sollen vom neuen Angebot profitieren,
statt sich in Konkurrenzdenken zu verlieren.
Schon ein Jahr vor der Eröffnung hat der Intendant inzwischen eine ganze
Reihe von Mitstreitern gewonnen. Die Nachricht, mit dem „klassischen
nebeneinander herwurschteln“ erst gar nicht anfangen zu wollen, hat einigen
auch die Angst vor dem großen neuen Kulturanbieter und seinen Alleingängen
genommen. Und so gibt es viel versprechende Pläne, die Kräfte der
Umgebung in das Gesamtkonzept einzubinden. Die Folkwang-Hochschule beispielsweise,
Essens bundesweit renommierte Musikausbildungs-Stätte, soll gleich mehrfach
in den Genuss kommen, die Studenten an hochkarätigen Praxisprojekten beteiligen
zu können. Das in kurzer Zeit zur „Landesmusikinstitution“ avancierte
Chorwerk Ruhr soll in Essen regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten
bekommen. Und auch die kleineren, etablierten Konzertstätten will man
künftig nicht sang- und klanglos übergehen. So erfreut sich das Essener
Weltkulturerbe, die Zeche Zollverein, inzwischen einer eigenen Konzert-Reihe
mit Weltklasse-Musikern wie Jan Garbarek oder Frank Peter Zimmermann. Die dort
erfolgreichen WDR BigBand-Programme will man beispielsweise gemeinsam weiterführen.
Mit der Essener Gedenk- und Ausstellungs-Stätte Alte Synagoge ist zudem
ein Kooperationsprojekt mit Musik-Poet Hermann van Veen geplant, der seine
Vertonung jüdischer Kindheitserinnerungen in beiden Häusern vorstellen
wird. Kooperationsmöglichkeiten gibt es wohl noch viele. Auch in Zusammenhang
mit den Konzerthäusern der Umgebung, die sich in einigen Jahren wohl nolens
volens in einer Konkurrenzsituation wiederfinden werden. „Man braucht
nicht unbedingt den großen Überbau, sondern Ideen“, gibt sich
Kaufmann zuversichtlich, auch über Stadtgrenzen hinweg gemeinsame Projekte
zu realisieren.
Mit knapp 2.000 Plätzen verfügt der Essener Konzertsaal immerhin über
das mit Abstand größte Platzangebot im Ruhrgebiet. Dortmund hat
sich als „Philharmonie für Westfalen“ mit 1550 Plätzen
etwas kleiner gesetzt. Zwischen den nicht mal 40 Kilometer entfernten Revier-Städten
prüft Bochum derzeit noch diverse Standorte für die neue Heimstätte
der Symphoniker unter Steven Sloane, nachdem die Stadt eben erst die mit 37
Millionen Euro sanierte Jahrhunderthalle als neues Festspielhaus der Ruhrtriennale
in Bezug genommen hat. In Duisburg diskutiert man über einen Multifunktionssaal
für 1.800 Gäste, nachdem klar ist, dass die Mercator-Halle trotz
aller Proteste abgerissen wird und die Duisburger Philharmoniker übergangsweise
im ehemaligen Musical-Theater am Marienplatz spielen werden.
Von der anfangs gemeinsam gepflanzten Idee einer Ruhrphilharmonie,
deren Größenordnung
bald nur der Essener Konzertsaal mit knapp 2.000 Sitzen entsprechen kann, sind
somit viele Ableger entstanden. Eine Region mit mehr als fünf Millionen
Einwohner soll das vertragen können, versichern die örtlichen Kulturdezernenten.
Von Kulturpessimismus also keine Spur: In Zeiten eines flächendeckend
angestimmten Sparkonzertes zieht das Ruhrgebiet als Kulturgebiet noch einmal
mutig alle Register.
Mehr Zufriedenheit durch Viel-Harmonie? Zumindest die Ruhrtriennale
mit ihrem Intendanten Gerard Mortier arbeitet seit 2002 daran,
inneren Einklang und äußere
Strahlkraft des Ruhrgebiets mittels Kultur herzustellen. Während das zunächst
mit 40 Millionen Euro ausgestattete Drei-Jahres-Festival gemeinhin vor allem
auf den Charme rostmoderner Montan-Architektur setzt, signalisiert man dem
bislang im Spielplan etwas vernachlässigten Essen bereits, das neue Konzerthaus
ab 2004 in die Programm-Planungen einzubeziehen. Auch das renommierte Klavierfestival
Ruhr hat für das kommende Jahr bereits Kooperationen zugesagt. Der vom
Initiativkreis Ruhrgebiet und der Industrie alljährlich sorgfältig
aufpolierte Klassik-Hochkaräter mit seinem Intendanten Franz-Xaver Ohnesorg
wird nach Angaben Kaufmanns gleich drei wichtige Konzerte in die neue Essener
Philharmonie verlegen. Die Pult- und Piano-Prominenz von Daniel Barenboim bis
Alfred Brendel gastierte bislang im benachbarten Aalto-Theater, das 1988 nach
jahrzehntelangen Debatten eröffnet wurde und sich in kurzer Zeit unter
seinen führenden Köpfen, derzeit dem viel gelobten Generalmusikdirektor
Stefan Soltesz, zu den führenden Häusern des Landes mit hohen Auslastungszahlen
und großem öffentlichen Zuspruch entwickelt hat. Die regelmäßige
Bereitstellung der eigens angeschafften Konzertmuschel kostete indes zuletzt
viel Zeit und Geld, seit sich die Philharmoniker im Jahr 2000 aus der damals
angestammten Spielstätte Saalbau wegen akuter Baumängel verabschiedet
hatten und notgedrungen ins Aalto-Theater umzogen. Freilich auf Kosten eines
eingeschränkten Spielplans und Platzangebotes. Die Kapazität sank
um 300 auf 1.125. Kein Wunder, dass die Theater und Philharmonie GmbH, die
neben Schauspiel, Musiktheater und Ballett bald auch die Philharmonie als vierte
Sparte unter ihre Fittiche nimmt, dem neuen Konzerthaus im Saalbau mit den
fast 2.000 Plätzen mit Erwartung entgegen blickt. 100 Jahre später
weiß man schließlich, dass Saalbau-Eröffnungen die Ouvertüre
zu künstlerischen Erfolgsgeschichten sein können.