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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 22
52. Jahrgang | April
Bücher
Gigantischer zeitlicher Rahmen
Alexander Reischert erklärt das „Sujet“ auf
dem pragmatischen Weg
Alexander Reischert: Kompendium der musikalischen Sujets – Ein
Werkkatalog, Bärenreiter-Verlag, Kassel 2001, 2 Bde., zus.
1417 S., € 148,00, ISBN 3-7618-1427-5
Als er gegenüber Freunden und Kollegen seine Absicht erklärte,
die Musik aus vier Jahrhunderten nach Stoffen ordnen zu wollen,
sei er zumeist müde belächelt worden, erzählt der
Autor und Herausgeber. Aber das beeindruckte Alexander Reischert
wenig, schwebte ihm doch die Erfüllung eines lang gehegten
Wunsches vor Augen. Zweierlei sollte sein stolzes Vorhaben erleichtern.
Zunächst ein Verlag, der von Zweck und Nutzen eines solchen
Lexikons überzeugt war und seinem Autor freie Hand ließ,
und dann die technischen Hilfsmittel bis hin zum Internet, die
eine lückenlose Dokumentation sicherten.
Der Bärenreiter Verlag hatte vor gar nicht langer Zeit ein ähnliches
Projekt, das „Lexikon der Programmmusik“ von Klaus
Schneider, realisiert, dessen Inhalt sich in minimaler Teilmenge
mit Reischerts Kompendium deckt. Zu klären war vor diesem
Hintergrund, was ein Kompendium von Sujets denn eigentlich umfassen
sollte und wo seine Grenzen zu ziehen waren. Vorbilder dazu gab
es zwar in anderen Fachrichtungen wie der Literaturwissenschaft,
wo Elisabeth Frenzels 1962 erschienenes Lexikon dichtungsgeschichtlicher
Längsschnitte mit dem Titel „Motive der Weltliteratur“ kurz
nach Erscheinen zu einem Standardwerk avancierte. Aber Friedrich
Leipoldts 1985 unternommener Versuch, im Rahmen seines „Lexikons
der musischen Künste“, die Idee auf bildende Kunst und
Musik zu übertragen, blieb höchst lückenhaft.
Was nun aber als Sujet zu bezeichnen ist und in welchem Ausmaß es
sich auf ein musikalisches Werk beziehen lässt, bedarf der
Definition. Reischert wählt den pragmatischen Weg. Er führt
ein bestimmtes Werk unter einem Begriff auf, wenn das Sujet in
seinem Titel benannt ist oder seine Zielrichtung ausdrücklich
vom Komponisten zum Ausdruck gebracht wurde. Niemanden wird es
verwundern, dass somit der Hauptanteil von Reischerts Material
aus szenischen Werken besteht, deren Titel schon allein den Hinweis
auf ihren Inhalt vermitteln. Die Interpretation auf reine Instrumentalmusik
dagegen bleibt problematisch. Wie weit nähert sich ein kammermusikalisches
Werk überhaupt dem in seinem Titel bezeichneten Sujet? Ist
in Rolf Riehms „Toccata Orpheus“ für Gitarre solo
die mythologische Gestalt gemeint oder ein abstrahierender Gedanke,
der mit den Handlungen des Orpheus in irgendeinem losen Zusammenhang
steht? Wie steht es mit dem Siegfried-Sujet? Ist Richard Wagners „Siegfried-Idyll“ wirklich
auf den Held seines Musikdramas bezogen oder verselbstständigt
sich das musikalische Material nicht vielmehr zu einer Instrumentalfantasie
mit anderen Schwerpunkten? Eine Wertung, in welcher Art und Intensität
der jeweilige Stoff umgesetzt wurde, kann das Handbuch nicht liefern.
Gänzlich scheitert der Suchende, wenn er versteckte Sujets
in größeren Werkzusammenhängen suchen will, die
einen eigenständigen Sinnzusammenhang bilden. So ist selbstverständlich
Helmuth Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ unter
dem Haupt-Sujet des Märchens von Hans Christian Andersen aufgeführt,
nicht aber die eingeschobene Beschreibung eines Vulkanausbruchs
von Leonardo da Vinci. Reischert zieht Grenzen und muss sie ziehen.
Auch in der problematischen Bezeichnung der Werktitel. Die werden
in der Regel in der Originalsprache und in der Form abgedruckt,
in der das jeweilige Werk seinerzeit zur Uraufführung gelangte.
Das kann für den Nutzer zu Irritationen führen, wenn
der Komponist später einmal den Titel geändert haben
sollte.
Gigantisch ist allein der zeitliche Rahmen, den Reischert abzudecken
versucht. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme historischer,
mythologischer, literarischer und religiöser Sujets seit dem
17. Jahrhundert. Der Autor führt die Schlagworte alphabetisch
auf und ergänzt die Zusammenstellung durch ein Personen- und
Stoffregister. Nach den ausnahmslos lesenswerten, überaus
griffig formulierten Einführungen ins jeweilige Thema werden
die Einträge chronologisch nach Entstehungsjahren geordnet,
wobei Daten zur Uraufführung, Drucklegung und zum Verbleib
des Notenmanuskriptes sowie Aufführungsdauer beigefügt
sind. Reischert hat unterschiedliche Quellen benutzt, zu denen
allgemeine Fachlexika wie die MGG ebenso gehören wie das „Lexikon
der biblischen Personen“ und natürlich die Internet-Recherche
zur Werk-Auffindung.
Das Sujet, so scheint es Reischert zu interpretieren, lässt
sich nur auf ein musikalisches Werk beziehen, wenn es im Titel
genannt wird oder aber als geschlossener Begriff darauf zu beziehen
ist. Inhalte oder Bezüge, die sich auf historische Personen
beziehen, ohne ausdrücklich im Titel genannt zu sein, fallen
durch den Rost der Dokumentation. So die berühmte Kantate „Seid
nüchtern und wachet ...“ von Alfred Schnittke, die viele
Jahre vor seiner „Faust“-Oper entstand und sich just
auf die Gestalt des Doktors aus dem Spies´schen Volksbuch
bezieht. Reischert nennt die Oper, nicht aber das Vokalwerk. Das überaus
umfangreiche, übersichtlich gestaltete Werk ist von unschätzbarem
Wert für den Praktiker. Programmgestalter, Dramaturgen, Radio-Leute
und nicht zuletzt auch Laien werden einen großen Nutzen daraus
ziehen.
Selbstverständlich ist eine Arbeit wie diese niemals abgeschlossen
und – das zeichnet sie wegen ihres engen Bezuges auch zur
Gegenwartsmusik aus – schon bei Erscheinen veraltet. Um sein
Kompendium stets aktuell zu halten, eröffnen Autor und Verlag
ein Internet-Forum unter der Adresse „www.musiksujets.de“.
Hinweise und Korrekturvorschläge werden entgegengenommen.
Bis zum Redaktionsschluss hat die Seite allerdings noch keine Errata
oder Ergänzungen verzeichnet.