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nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 22
52. Jahrgang | April
Bücher
Manische Entfesselung geistiger Produktivkräfte
Zum 100. Todestag von Hugo Wolf erscheint ein Buch von Dietrich
Fischer-Dieskau
Dietrich
Fischer-Dieskau: Hugo Wolf. Leben und Werk, Henschel, Berlin
2002, 558 S., 44 s/w-Abbildungen, 34 Notenbeispiele, € 39,90,
ISBN 3-89487-432-5
Anlässlich des 100. Todestages von Hugo Wolf verfasste der
Heldenbariton Dietrich Fischer-Dieskau, der sich vielfältig
als Lied- und Opernsänger und auch als Dirigent mit dem Oeuvre
des österreichischen Komponisten auseinandergesetzt hat, eine
Biografie über dessen allzu kurzes Leben mit einer nur zehnjährigen
Schaffensperiode.
Es scheint so, als müssten die Biografien berühmter
Komponisten alle fünfzig Jahre neu geschrieben werden. Im Falle
Hugo Wolfs, der am 13. März 1860 in Windischgratz geboren wurde
und am 22. Februar 1903 in der Niederösterreichischen Irrenanstalt
in Wien verendet ist, war eine neue Biografie hoch an der Zeit.
Einerseits mussten frühere Arbeiten Rücksichten auf noch
lebende Zeitgenossen üben, anderseits war Hugo Wolfs Syphilis
ebenso ein Tabuthema wie seine langjährigen illegitimen Liebesbeziehungen.
Dass Fischer-Dieskau nun insbesondere in letzterem Punkt aus dem
Vollen schöpfen kann, verdankt er seiner Kollegin Elisabeth
Schwarzkopf: deren Gatte, der Schallplattenproduzent Sir Walter
Legge, hatte bereits 1931 mehr als die Hälfte von Wolfs Liedern
bei HMV auf Schallplatte veröffentlicht, die 1998 von EMI auf
fünf CDs, in digitalem Remastering, neu veröffentlicht
wurden. Eine zweite Wolf-Serie ließ Legge dann mit dem Pianisten
Gerald Moore, der Schwarzkopf und Fischer-Dieskau folgen. Legge
plante offenbar selbst eine Biografie des von ihm hoch verehrten
Komponisten. Seine Wolf-Sammlung enthält insbesondere Briefe
von Wolfs Eltern. In diesen Dokumenten fällt ein grelles Licht
auf die grauenvoll zerrüttete Ehe von Hugos Eltern Philipp
und Katharina. Die Briefe zeigen aber auch, mit wie viel Enttäuschung
und Liebe der Lederer seinen Sohn wirtschaftlich unterstützte.
Fischer-Dieskau entwirft ein gut lesbares, anschauliches Bild
von Wolfs Kindheit und Jugend, wobei der Ton im Elternhaus sich
ungünstig auf die Charakterbildung Hugos und seiner Geschwister
ausgewirkt hat.
Hugo Wolfs Bruder Gilbert ist extrem streit- und trunksüchtig;
auch er scheitert am Leben, wie sein Bruder. Bei dem nur unter großen
Schwierigkeiten eingeschlagenen Weg zum Musiker vermochte Wolf nicht,
sich seinen Lehrern unterzuordnen und blieb Autodidakt.
Rastlos suchte er stets neue Wohnungen, lebte auch einige Zeit
in Wohngemeinschaft mit dem jungen Gustav Mahler. Genervt von jedem
Geräusch, erschoss Wolf die seine Ruhe störenden Singvögel
mit einer Schrotflinte. Stets auf fremde Hilfe angewiesen, vermochte
er kaum, mit neuen Leihgaben alte Schuldenlöcher zu stopfen.
Wiederholt ließ er seine Partituren oder seine Honorare im
Wartesaal, in der Straßenbahn oder in fremden Schubladen liegen
und verlor sie so auf immer. Er war ungeduldig als Lehrer und scheiterte
als Chordirigent am Landestheater Salzburg, nicht jedoch als Interpret
seiner Lieder am Klavier. Nur mühsam fanden seine Kompositionen
den Weg in die Öffentlichkeit.
Den verdankte er, neben der Hilfe selbstloser Freunde, insbesondere
Wagnerianern, die den entschieden wagnerbegeisterten Wolf förderten.
So waren es die Wagner-Vereine, denen Wolf seinen künstlerischen
Aufstieg verdankte, und aus einem Wagner-Verein wurde auch der erste
Wolf-Verein gegründet. Dem Thema „Antisemitismus“
widmet Fischer-Dieskau einen „dunklen Exkurs“: er verschweigt
weder Wolfs dezidiert antisemitische Haltung noch Kräfte im
Wagner-Verein, die behaupteten, Wolf sei selbst jüdischer Abstammung.
So fand Wolf auch hier keinen Frieden und brüskierte sich über
die „bodenlose Borniertheit dieser Wagnerverein-Menschen“.
Zahlreiche Feinde hatte sich Wolf als ausfälliger, bissiger
Kritiker pro Wagner und gegen Brahms und dessen Gefolgsleute gemacht.
Plastisch zeichnet Fischer-Dieskau Wolfs Ringen um einen Operntext,
seine Probleme mit dem in zwei Fassungen vorliegenden „Corregidor“
und der unvollendeten Oper „Manuel Venegas“, die der
Autor als einen Verismo-Reißer interpretiert.
Dass der Kritiker Wolff – zur Verwunderung Fischer-Dieskaus
– Franz von Suppés Operette „Bellman“ freundlich
lobte und „Die Fledermaus“ negierte, lässt sich
autobiografisch erklären: Allzu deutlich spiegelte Johann Strauß’
Operette jene gesellschaftliche Doppelmoral, die Wolf auszuleben
gezwungen war.
Wolf hatte sich mit knapp achtzehn Jahren im Bordell „Lehmgrube“
mit Syphilis infiziert. Exzentrische Arbeitsschübe höchster
Produktivität lösten sich ab mit langen Phasen, in denen
Wolf über keinerlei Inspiration verfügte und auch nichts
zu Papier bringen wollte. Diese Schübe wurden ausgelöst
durch die syphilitische Intoxikation und die Vorzeichen des Ausbruchs
der Gehirnparalyse. Der Leser könnte aus der manischen Entfesselung
geistiger Produktivkräfte den Schluss ziehen, Wolfs Krankheit
sei die Erklärung seiner Genialität, einer Schlussfolgerung,
gegen die Fischer-Dieskau sich entschieden verwehrt.
Die Errata dieser Publikation halten sich in Grenzen; so handelt
es sich wohl um Druckfehler, wenn von „Siegmond“ (statt
Siegmund) in der „Walküre“ und von „Lobedanz“
(statt „Lobetanz“), der von Bierbaum Wolf angebotenen
und dann von Thuille vertonten Dichtung, die Rede ist. Aber es verwundert,
dass Fischer-Dieskau, der sich schriftstellerisch und als Interpret
bei Wagner bewährt hat, im Zusammenhang mit der Wiener Fassung
von Wagners „Tannhäuser“ von „dem zum Venusberg
überleitenden Ouvertürenschluss“ spricht (S. 48),
obgleich in dieser Fassung die Ouvertüre (erstmals) nahtlos
ins Bacchanale überleitet. Dietrich Fischer-Dieskaus umfangreiche,
der Biografie nachgestellte, aus Erfahrungen des Interpreten gereifte,
subjektive Betrachtung der Liederzyklen von Hugo Wolf gehört
zu den besten Seiten dieses Buches.
So gesehen bietet die Neuerscheinung eine echte Bereicherung, in
Ergänzung zu der auch von Fischer-Dieskau häufig zitierten
Arbeit von Frank Walker (Graz 1953), die ein sehr viel exakteres
Werkverzeichnis und eine größere Anzahl komplett zitierter
Briefe Wolfs enthält.