[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/04 | Seite 3
52. Jahrgang | April
Zukunftswerkstatt
Musikalische Bedürfnisse und Kulturindustrie
Auszüge aus dem Manuskript eines Musikfeatures von Jochem
Wolff und Armin Diedrichsen
„Wir brauchen doch Musik, nicht wahr? So zwischendurch
hat man das doch nötig. Es geht ja auch nicht bloß ums
Entspannen, ums Übertönen. Es geht doch auch um das bessere
Ich, um die Verbindung mit einem Höheren Wesen, nicht wahr?
Es ist doch auch nicht der Moment, Phrasen zu dreschen, dazu ist
nie
der Moment. Musik ist doch höhere Offenbarung als alle Weisheit
und Philosophie, nicht wahr? Na also! Musik ist doch die wichtigste
Nebensache der Welt, nicht wahr? Na also!“
Urs Frauchiger, Schweizer Cellist,
Musikschriftsteller und Radiomacher, bringt es in seinem
Buch „Was zum Teufel ist mit der Musik los. Eine Art Musiksoziologie
für Kenner und Liebhaber“, auf den Punkt: Musik gehört, zusammen
mit Fußball und Erotik, zu den beliebtesten Beschäftigungen der
Menschheit. Vorbei allerdings die Zeiten, in denen der Musiker und der Konsument
ungehindert ihrer Bestimmung frönen konnten. Heute ist Musik von zahlreichen,
durchaus unübersichtlichen Faktoren abhängig und ihre Zukunft alles
andere als rosig.
Musik im Fahrstuhl, Musik
im Kaufhaus, Musik im Auto: Musik ist überall – und
damit im verschwinden Begriffen? Foto: Martin Hufner
Unsere Musiklandschaft präsentiert sich unter anderem mit hunderten von
Orchestern und Musikschulen, mit Tausenden und Abertausenden, die Musik machen,
von Musik leben und auf die Abertausende angewiesen sind, die Musik hören.
Mithin zeigt sich eine bundesrepublikanische Musikszene, die
zwar quantitativ überwältigend
reich ist, die aber seit längerem in einer – nennen wir es so – Sinnkrise
steckt. Verschärft wird das alles durch die Frage, wer diesen Reichtum
in Zukunft finanzieren soll. Doch im Zuge dieser Überlegungen stellt
sich vorab die Grundsatzfrage: Musik wozu?
Von welcher Musik sprechen wir überhaupt? Da gibt es einen gewaltigen
Fundus an Material, der immer noch Gefühle transportiert, auch wenn sie
noch so weit von ihrem historischen Ort entfernt sind. Wir leben mit den Augen
in der Postmoderne, an der Schwelle zum Molekularchip-Zeitalter; mit den Ohren
aber leben wir im 19. Jahrhundert, unrettbar verloren an anachronistische Klänge.
Das 19. Jahrhundert verabschiedete sich unentwegt, politisch, ökonomisch,
kulturell. Das 20. Jahrhundert beendete etwaige noch vorhandene Hoffnungen.
Die Musik aber, scheinbar unberührt über allen Fährnissen schwebend,
behielt ihre Wirkung. Dank ihrer durch technische Möglichkeiten weltweiten
und unablässigen Verbreitung wurde sie sogar zur omnipräsenten und
omnipotenten Kraft. Es gibt so viel verfügbare Musik, dass hinter dieser
ihre eigentliche Gestalt bereits verschwindet.
Eine Kunstform wie die Musik, die ihre Inhalte nicht mehr erneuern
kann oder aber in ihren zeitgenössischen Ausprägungen ihr Publikum kaum noch
oder nur mit Mühe findet, steht still. Musik als Ereignis in der Zeit
wird durch ihre permanente technische Wiederholbarkeit zu einem mechanischen
Vorgang herabgestuft. 1907 fasste Ferrucio Busoni in seinem ersten Entwurf
einer „Neue Ästhetik der Tonkunst“ den Überdruss in Worte: „Vielleicht,
dass noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb der Grenzen ausgebeutet wurden – die
polyphone Harmonik dürfte noch manches Klangphänomen erzeugen können – aber
die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren längste
Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden wir dann unseren Blick,
nach welcher Richtung führt der nächste Schritt? Zum abstrakten Klang,
zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit.“
Gefragt sei einmal mehr: „Musik wozu?“, nach dem „Wozu“ einer
Musik, die als lebensbegleitende Automatik vom Fahrstuhl bis zur Konzerthalle
Bestandteil einer Bewusstseinsindustrie geworden ist, aber uns in dem Gefühl
unserer inneren Unabhängigkeit
zu bestätigen scheint. Wir können wählen, welchen permanenten
Klang wir hören wollen. Die Stille können wir nicht wählen.
Und für wen ist nun diese Musik, die unablässig tönt? Glaubt
man den Zahlen, so ist Musik einer erstaunlich großen Gruppe der Bevölkerung
wichtig:
3,2 Millionen Menschen sind in rund 61.000 Chören organisiert, fast sieben
Millionen sogar im Bereich des Laienmusizierens, wenn man alle Ebenen erfasst.
Mithin kann davon ausgegangen werden, dass knapp zehn Prozent der Bevölkerung
sich in ihrer Freizeit aktiv mit Musik beschäftigen. Diese phantastisch
anmutende Laienmusikbewegung ist ein wohl alle Unkenrufe widerlegender Beweis
für ein tieferliegendes, echtes Bedürfnis, sich durch und mit Musik
in der Gemeinschaft zu äußern.
„Jeder braucht Musik“ war der Titel einer ZDF-Sendereihe Anfang der
80er-Jahre; „Konzert für Millionen“, „Volkstümliche
Hitparade“ und dergleichen mehr sprechen dafür, dass Musik zu den
wesentlichen Bedürfnissen des Menschen gehören muss. Sie zählt
zu den quasi angeborenen Grundforderungen und kommt gleich nach Essen, Trinken
und Schlafen – oder macht uns das nur eine clevere Industrie glauben?
Die Musikgeschichtsschreibung überblickt maximal 6.000 Jahre,
wenn man die ersten bildlichen Darstellungen von Instrumenten in
Betracht zieht. Wann
und wie Musik entstanden ist, berührt eine alte Streitfrage. Zumindest
aber herrscht Einmütigkeit darüber, zu welchen Gelegenheiten Musik
entstand: als Beruhigung, als tröstendes Gemurmel in der Mutter-Kind-Beziehung,
zur Unterstützung jeglicher Arbeitsvorgänge, als magische Beschwörung
außermenschlicher Kräfte. Von diesen Anfängen musikalischer
Lebensäußerungen wurde das Bedürfnis geprägt. Es war
nicht elementar vorhanden, sondern entwickelte sich gemeinsam mit den anderen
Kulturleistungen.
Obwohl in nicht wenigen empirischen Arbeiten und theoretischen
Abhandlungen mittlerweile diskutiert, lassen sich die genetischen
Anteile künstlerischer
und somit musikalischer Bedürfnisse nicht endgültig gegen jene abwägen,
die durch Sozialisation, also durch Erziehung und gesellschaftliche Orientierung
entstanden sind. Letztlich widerstreiten einander abweichende Positionen, zumal
in der konkreten Bestimmung so genannter Urbedürfnisse. Zugespitzt fragt
Christian Kaden in seiner Publikation „Musiksoziologie“: „Hat
einer, der Musik zu brauchen vermeint, Musik wirklich nötig?“ Und
er fährt fort, den augenscheinlich klaren Befund in Frage zu stellen: „In
Anbetracht dessen, dass Musik seit Jahrtausenden gebraucht wird, dass es kein
einziges Volk gibt, dem sie unbekannt wäre, und dass sie heutigentags
gar Millionen von Menschen, vom Aufgang der Sonne bis zur Neige der Nacht,
vor tönende Gerätschaften bannt, in denen die technische Perfektion
der Epoche zusammengefasst ist, scheint sich die Frage von allein zu beantworten.
Und doch führt sie zum Kern der Sache: Ob es Musikbedürfnisse gebe
und je gegeben habe, ist, zumindest für die Fraktion der Rezipienten,
höchst unsicher.“
Mit Musik umgehen – das bedeutet, ein Mindestmaß an Vorbildung,
an Erfahrung mit und an Musik in der Gesellschaft gewinnen zu können.
Eine Forderung, die sich unmittelbar an unser Bildungssystem richtet, mit dem
es, wie wir nicht erst seit der PISA-Studie wissen, nicht mehr zum Besten steht.
Ein Bedürfnis nach Musik, nach akustischer Wegbegleitung und Lebensäußerung
ist, wie wir feststellten, durchaus vorhanden. Was aber ist mit der so genannten
klassischen Musik? Gibt es auch hier ein Bedürfnis oder muss nicht in
diesem Bereich Interesse durch gezielte Vermittlung erst geweckt werden?
Der Frankfurter Musikschriftsteller und -kritiker Hans-Klaus
Jungheinrich hält
die Situation für überaus schwierig, indem er darauf verweist, dass
eine veränderte Haltung der Generationen zur Musik-Kultur eben schon bemerkbar
wird und dass es damit problematischer ist als zum Beispiel vor 50 Jahren.
Denn wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir es jetzt mit einer
Generation zu tun haben, die inzwischen fast ganz durch die Pop-Kultur sozialisiert
ist – also ist die „Klassik“ bei den jüngeren Generationen
mehr und mehr in den Hintergrund getreten.
Ist der Befund richtig? Oder bedarf auch er erneut der Interpretation?
Es sei auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, dem sich bislang kaum ein Theoretiker
widmete: das der neueren Filmmusik und ihrer volksbildenden Aspekte. Spätestens
seit den Erfolgen der „Star Wars“-Trilogie gegen Ende der siebziger
Jahre begann symphonische Musik, insbesondere des US-Amerikaners John Williams,
die Hörgewohnheiten eines Massenpublikums zu beeinflussen.
Die Klassik wird hier zwar ausgetauscht gegen Musik „aus zweiter Hand“,
die Klänge und Gesten als Imitation anbietet; doch immerhin ist ein solchermaßen
an romantisches Pathos gewöhntes junges Publikum zu einer höchst
ungewöhnlichen Entscheidung gelangt – es wählte die 3. Sinfonie
des Polen Henryk Górecki 1993 in die Top Ten der britischen Pop-Charts,
wo vor allem der langsame Satz wahren Kultstatus gewann. Ist dies der neue
Trend, Klassik auf Umwegen? Jedenfalls gibt es noch keine bündige Erklärung
für den Erfolg eines damals sechzigjährigen Komponisten, dessen Vertonung
von Gebeten und Texten aus Konzentrationslagern wohl kaum dem mainstream zugerechnet
werden kann. Vielleicht muss man ein neues Bedürfnis konstatieren: neben
aller postmodernen Aufgeregtheit auch eine tiefe Sehnsucht nach Ruhe und Spiritualität.
Die Zukunft der Musik ist unser Thema, die Zukunft der sie abbildenden
Strukturen, Personen, Einrichtungen, aber auch die Zukunft ihrer
Finanzierbarkeit. Musik
ist überall, ihre Wirkung nach wie vor beachtlich. Dennoch sind wir aufgerufen,
uns Gedanken zu machen über die Art und Weise der Vermittlung, über
Bestandssicherung und Erhalt von Traditionen. Die Thesen in der Debatte um
die Widersprüche des Musikbetriebes sind nicht erst seit heute bekannt;
diskutiert wurde zu Beginn der achtziger Jahre Hilmar Hoffmanns Schlagwort
einer „Kultur für alle“ vor dem sich bereits abzeichnenden
Strukturwandel und einer schon erkennbaren Verknappung der Budgets.
Vielerorts ist in den politischen Auseinandersetzungen der verlockende
Gedanke durchgespielt worden, man solle die Kultur, über die sich sogar die Ausübenden
nicht einig werden können, „befreien“ und dem Markt aussetzen,
so erledige sich das Gerangel um Subventionen und Anerkennung. Und was sich
nicht bewährt, müsse man nicht mehr streichen, es werde schlicht
abgeschafft und vergessen. So ist Kulturpolitik, so ist Musikbetrieb als Teilbereich
vor allem zum Kampf um Bestandssicherung geworden. Die Gesellschaft von morgen
bedarf nach Einschätzung verschiedener Forschungsinstitute nicht mehr
der traditionellen auf Inhalte konzentrierten Vermittlung der noch existierenden
Kulturträger. Den Prognosen zufolge werden wir eine reine Event-Kultur
entwickeln, die sich aus dem Steinbruch der Musikgeschichte nach Belieben bedient.
Was aber braucht der Mensch? Ist Musik nicht vielleicht doch mehr als äußerliche
Sensation? Oder reicht ihre Aura nur noch für den besseren Absatz einer
Sektmarke? All denen, die eine qualitativ hochrangige Musikkultur wollen, die
sozial gerecht angeboten wird und eine möglichst hohe Meinungsvielfalt
widerspiegelt, tritt Urs Frauchiger mit seinen Parodien entgegen. Er lässt
den Kleinbürger sprechen, der noch häufig mit aller Dumpfheit ein
Abbild allgemeiner Spruchweisheit von sich gibt.
„Und überhaupt. Durch Sie lasse ich mir die Musik schon nicht vergällen,
durch Sie schon gar nicht. Dafür ist mir die Musik denn doch zu wichtig,
ein zentrales Anliegen sozusagen. Was meinen Sie denn eigentlich? Meinen Sie,
ich rackere mich da den ganzen Tag in meinem Laden da halb krank und lasse mir
dann noch die seltenen Mußestunden verderben? Lassen Sie mich doch in Ruhe.
Bohren Sie doch andern Leuten in der Nase, Sie Weltverbesserer, Sie Schulmeister,
Sie Pedant. Mit mir können Sie das doch nicht machen. Bei mir sind Sie aber
an den Falschen geraten. Mich können Sie nicht auf den Arm nehmen, mich
nicht. Von Ihnen lasse ich mir den Ast nicht absägen, auf dem ich sitze.
Ziehen Sie einem Dümmeren den Teppich unter den Füssen weg. Und eines
sage ich Ihnen: Leute wie Sie sind der heutigen Musikkultur gar nicht wert. Gehen
Sie doch nach Afrika. Dort können Sie ja mit den Schwarzen um ein Totem
herumhopsen und die Trommel schlagen. Dann haben Sie Ihre Gleichheit.“
Der vorliegende Text ist die stark gekürzte Version eines
Manuskriptes des Musikfeatures „Musikalische Bedürfnisse
und die Versprechen der Kulturindustrie“ vom 7. Januar
2003 auf Bayern2 Radio.