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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 8
52. Jahrgang | Jul./Aug.
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Conlon Nancarrow
Wie wird man als Komponist berühmt? Die Frage haben sich
schon viele gestellt, vor allem diejenigen, die es nicht geworden
sind. Die Antwort ist wohl ähnlich schwierig wie die Vorhersage
der Börsenkurse, aber eines ist sicher: Die Qualität der
Musik ist zunächst nebensächlich. Später mag sie
unverzichtbar sein, aber zu Beginn einer Karriere sind andere Faktoren
wichtiger.
In Deutschland etwa muss ein Newcomer von einem der paar einflussreichen
Kompositionslehrer oder einem Verlag bei einem der paar einflussreichen
Veranstalter gepusht werden. Wenn einer anbeißt, ziehen die
anderen in der Regel mit, denn keiner will sich dem Vorwurf des
Zuspätkommens aussetzen. Hat das product placement funktioniert
und sitzt der Neue erst einmal auf dem Veranstalterkarussell, so
wird das Projekt „Junger Komponist“ für die nächsten
Jahre zum Selbstläufer. Jeder will nun am Erfolg teilhaben:
Die Ensembles, Solisten und Dirigenten mit einer „UA“
im Programm, die wohl meinenden Orchesterdirektoren, Abteilungsleiter,
Preisverleiher und Stipendiengeber. Die Presse hat eine reaktive
Aufgabe: Sie feiert die längst abgemachte Sache als Entdeckung
und gibt damit dem Ritual den öffentlichen Segen.
In der Börsensprache heißt das: „Die Hausse nährt
die Hausse.“ Hinterher bricht der Kurs irgendwann wieder ein,
und erst jetzt kommt der qualitative Aspekt zum Tragen. Er entscheidet
über den tiefen Fall oder den weiteren Aufstieg. Und schon
ist der Nächste dran, das Spiel beginnt von vorne.
Es gibt aber auch andere Fälle: Komponisten, die viele Jahre
ihres Lebens im Abseits stehen und unbeachtet bedeutende Musik schreiben.
Wenn sie dann irgendwann „entdeckt“ werden – nur
hier ist das Wort zutreffend –, kommen sie zu späten
Ehren, und der Musikbetrieb bemüht sich um sie mit Wiedergutmachungs-Aktionen,
die nicht ohne Peinlichkeiten sind. Sie lassen die beflissenen Honneurs
mit der Souveränität derjenigen an sich abprallen, die
aus dem Kampf mit der ignoranten Öffentlichkeit gestärkt
hervorgegangen und sich ihrer Sache sicher geworden sind. Sie sind
die wahren freien Geister.
Ein solcher Fall war Conlon Nancarrow. Geboren 1912 in den USA,
machte er nach seinem Musikstudium allerlei Dummheiten. Er war zum
Beispiel für kurze Zeit Mitglied der kommunistischen Partei
und Mitorganisator eines Konzerts zum zehnten Todestag von Lenin.
Dann wurde er Musiker in der Bordkapelle eines Überseedampfers,
landete in Europa und schloss sich 1937 der Lincoln Brigade an,
dem amerikanischen Freiwilligencorps im Spanischen Bürgerkrieg.
Alles Dinge, die Uncle Sam nicht gerne sah. Nach seiner Rückkehr
als Verwundeter wurde sein Pass nicht mehr verlängert, er wurde
ein Bürger zweiter Klasse. 1940 übersiedelte er nach Mexiko,
wo er sich 1951 einbürgern ließ und bis zu seinem Tod
1997 lebte. Eine schwierige Voraussetzung für eine Komponistenkarriere,
und zugleich eine günstige für ein Werk, das sich jenseits
aller Vergleichsmaßstäbe entwickelte und auch ohne Vergleich
dasteht. Nancarrow komponierte für das sogenannte Player Piano,
das durch gestanzte Rollen und mittels Druckluft zum Klingen gebracht
wird. Zwischen 1949 und 1991 schuf er rund fünfzig solcher
Stücke, die er „Studies“ nannte. An manchen von
ihnen arbeitete er über ein Jahr. Er stanzte sie selbst, verfeinerte
unablässig die komplizierten Abspielmechanismen und wurde auf
Dauer quasi eins mit seinen Werkzeugen. Ein genialer Musikingenieur
und Tüftler, dessen kompositorisches Denken mit dem Instrument
verschmolz. Er produzierte Klanggebilde von bizarrer Gestalt und
fremdartiger Schönheit. 30 Jahre lang verbrachte er kaum beachtet
in seiner Werkstatt am Rande von Mexiko City. Wenige nahmen sein
Werk zur Kenntnis, auch sie Außenseiter: Komponisten wie Henry
Cowell, James Tenney, Elliott Carter und John Cage, Journalisten
wie Peter Garland und Charles Amirkhanian. Nancarrow war eine jener
„Desert Plants“, die der Komponist Walter Zimmermann
in seinem 1976 erschienenen Buch über musikalische Außenseiter
porträtierte. Mit diesem Buch beginnt die europäische
Rezeption Nancarrows – erst untergründig, dann in immer
größeren konzentrischen Kreisen. Der Pianist Herbert
Henck, selbst ein musikalischer Trüffelsucher, macht Journalisten
und Veranstalter auf Nancarrow aufmerksam, in Berlin und Bremen
erklingt vom Tonband erstmals sein Musik. Als 1982 im Kölnischen
Kunstverein György Ligeti ein Lautsprecherkonzert mit Nancarrows
Werken kommentiert und ihn als den „bedeutendsten Komponisten
der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts“ apostrophiert,
ist der Damm gebrochen. Jetzt wollen alle Festivals Nancarrow spielen.
Dem Veranstalterwettlauf schaut der Komponist mit distanzierter
Skepsis zu.
Für das Zustandekommen der späten Anerkennung sorgte
aber vor allem ein Mann, der im ganzen Musikbetrieb bis dahin völlig
unbekannt war: ein Chemie-Angestellter aus Bergisch-Gladbach namens
Jürgen Hocker. Mit Nancarrows Musik war er zufällig in
Berührung gekommen und hatte als Sammler von mechanischen Instrumenten
den Spleen, sie auf einem Originalinstrument zum Erklingen zu bringen.
Er restaurierte ein uraltes Player Piano, das er in Belgien gefunden
hatte und schuf damit die Voraussetzung für eine „Live“-Wiedergabe.
Seither reist er mit seinem Klangmöbel durch die europäische
Festivallandschaft.
Hocker ist auch der Autor des bisher umfassendsten und kenntnisreichsten
Buchs über den Komponisten: „Begegnungen mit Conlon Nancarrow“,
erschienen bei Schott. Die Gespräche und Beobachtungen, die
Hocker auf den vielen gemeinsamen Konzertreisen mit Nancarrow machen
konnte, sind darin akribisch ausgewertet, die Musik auf einer CD
dokumentiert. Es ist zum Glück keine dröge Musikologenarbeit,
sondern ein lebendiger Bericht, der den Komponisten aus der Alltagsperspektive
und seine Musik unter handwerklich-technischen Aspekten zeigt, ohne
ambitionierten theoretischen Überbau. Eine erfrischend sachliche
Dokumentation über einen Komponisten, der seinen Weg allein
ging und den späten Rummel um seine Person weitgehend ignorierte.
Manchmal geht es eben auch ohne die eingefahrenen Mechanismen des
großen Betriebs.