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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite III
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Beilage:
Bücher für den Sommer
„dem universum die gänsehaut beibringen“
Neue Paraphrasen von und zu Hans-Joachim Hespos
Eva-Maria Houben: hespos – eine monografie,
Pfau Verlag, Saarbrücken 2003, 360 S., Abb., Notenbeispiele,
€ 30,00, ISBN 3-89727-212-1
7Wie
lässt sich über einen Komponisten schreiben, der selber
dem Reden und Schreiben über Musik, namentlich dem musikwissenschaftlichen,
größte Skepsis entgegenbringt, der Wörter für
„Oralfurze“ hält, aber zugleich in seinen Partituren
nicht ohne eine Fülle verbaler Anweisungen auskommt und fortwährend
mündliche oder schriftliche Äußerungen von sich
gibt, die inzwischen zwei stattliche Textbände füllen?
Eva-Maria Houben: hespos
– eine monografie, Pfau Verlag, Saarbrücken 2003,
360 S., Abb., Notenbeispiele, € 30,00, ISBN 3-89727-212-1
Und wie lässt sich mit seiner widersprüchlichen Selbsteinschätzung
umgehen, er habe die Musik stets nur als sie selbst und nicht als
Transportmittel für anderes gesehen, obwohl sie zugleich hochgradig
aufgeladen ist mit Ideen von Befreiung, Selbstbestimmung, Aufbruch,
Schock, Verletzung, Verausgabung, Risiko, Veränderung. Hans-Joachim
Hespos ist dieser Widerspruchsgeist und nicht zuletzt deswegen und
wegen seiner unkonventionellen Musik ist er eine Extrem- und Ausnahmeerscheinung
im gegenwärtigen Musikleben. Von einer Monografie über
ihn ließe sich daher zu Recht eine entsprechend unkonventionelle
Darstellungsweise erwarten.
Das jetzt erschienene Buch von Eva-Maria Houben – bereits
die vierte Hespos-Publikation der Autorin – ist eine seltsam
freie Rhapsodie. Es ist komponiert aus Gedankensplittern und zahllosen
eingestreuten Zitaten aus bereits bekannten Texten und neuen Gesprächen,
welche die Autorin seit 1999 mit dem Komponisten geführt hat.
Über weite Strecken liest es sich gemäß der Hespos’schen
Maxime „NO – ON“, die soviel wie „halt“
und „anders weiter“ meint, wie ein vielstimmiger Bewusstseinsstrom,
der ohne klares Thema, ohne Systematik und Argumentationszusammenhang
mehr oder minder frei assoziativ vorantreibt. Immerhin bieten ein
Werk- und Personenregister präzisere Zugriffsmöglichkeiten.
Im Gegensatz zu der von Heinz-Klaus Metzger Anfang der 1970er-Jahre
geäußerten Forderung, für Hespos’ Musik müsse
erst ein logisches Instrumentarium entwickelt werden, verzichtet
die Autorin auf jede „Arbeit am Begriff“ und bekennt:
„Nicht eine wie auch immer geartete Analyse kann das Ziel
sein, sondern der Prozess der Rede selbst. […] Ergebnisse
des Denkens und Sprechens gewinnen provisorischen Charakter“.
In Form eines gedruckten Buchs von 360 Seiten nimmt sich solch ein
Provisorium indes leicht monströs und ermüdend aus.
Im Anspruch orientiert sich die Publikation an Hespos’ Idee
von der Augenblickshaftigkeit von Leben und Musik. Sie umkreist
diesen Kerngedanken in zahllosen Variationen: teils mit wenig originellen
Lyrizismen („Der Klang ist wie ein Vogel, wie ein Schmetterling,
der durch den Raum fliegt“, S. 181), teils einem eng an Hespos
angelehnten expressionistischen Sprachstil („Jetzt –
Staunen, Sprach- und Atemlosigkeit: so lange wie möglich“),
teils mit kryptischen Gewissheiten („Hespos Musik […]
ist Musik der Hoffnung, nicht einer Hoffnung auf morgen, sondern
der ‘Hoffnung auf jetzt’“, S. 90), oder mit persönlichen
Leidensberichten („Ich werde bewegt, angerührt, gepackt
und geschüttelt, und es reißt mich auch hoch vom Sitz“,
S. 76). Vieles davon bleibt jedoch in leeren Behauptungen stecken,
weil im Unklaren gelassen wird, was an dieser Musik rührt,
wie sie packt und schüttelt und warum sie hochreißt.
Nichtssagend bleibt auch die für Hespos zentrale Einsicht „Wer
sich auf Hören einlässt, gibt alle Sicherheiten auf, lässt
sich auf Risiko ein“ (S. 79). Angesichts der Tatsache, dass
die meisten Hörer noch jedes Konzert unbeschadet an Leib und
Seele überstanden haben, wären doch zumindest einige Andeutungen
über die Art und Weise des gemeinten Hörens, der Sicherheiten
und Risiken angebracht gewesen.
Statt Anspruch und Wirklichkeit kritisch zu prüfen, werden
diese und ähnliche Weisheiten nur wiederholt. Wie Hespos setzt
die Autorin Leben und Musik gleich. Biografische Stationen und die
inzwischen 180 Opera werden durch lose Assoziationsbrücken
verbunden, womit vieles bereits geklärt und präziserer
Erörterungen überflüssig scheint. Zuweilen nimmt
diese Parallelisierung groteske Formen an, etwa wenn ein Sprung
des zweijährigen Hans-Joachim vom Balkon seiner Eltern als
eine „Unternehmung musikalischer Natur“ gedeutet und
als Indiz für seine spätere Ästhetik des Risikos
und Springens ins „Unberechenbare“ und „Inkommensurable“
strapaziert wird. Auch wird der Meister nicht in einen musikhistorischen
Zusammenhang mit vergleichbaren Ansätzen von Cage, Schnebel,
Globokar und anderen gestellt. Für die Autorin bleibt ihr „Lehrer“
ein unvergleichlicher Solitär. Mit ihrem jetzigen Buch liefert
sie zwar neue, wenn auch wenig andere Äußerungen als
die bereits publizierten von und zu Hespos, aber keine Erklärungen
darüber, ob und wie dieser dem „Universum“ eine
„Gänsehaut“ beibringt. Vermutlich täte man
daher besser, dem Rat der Autorin zu folgen und das über Hespos
„soeben Geschriebene ad acta zu legen und sich Neuem zuzuwenden“.