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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite I-II
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Beilage:
Bücher für den Sommer
Eines Wanderers Rückblick
Gidon Kremer stellt sein drittes Buch vor: „Zwischen Welten“
Der 1947 in Riga geborene Gidon Kremer gehört zu den spannenden
Geigern der Gegenwart. Sein Weg schien vorgezeichnet, waren doch
Vater und Großvater ebenfalls Geiger. Dass er sich schon als
Kind nicht „fügen“ konnte, Autorität und Hierarchien
hinterfragte, brachten dem Hochbegabten in der Studienzeit und den
folgenden Berufsjahren im sowjetischen System mehr als genug Schwierigkeiten.
1980 übersiedelte er in die Bundesrepublik, nachdem er bereits
vorher bei den Behörden einen spektakulären zweijährigen
„Westurlaub“ durchgesetzt hatte. Mit „Zwischen
Welten“ stellt Gidon Kremer sein drittes Buch vor.
Gidon Kremer: Zwischen Welten,
Piper, 384 Seiten, 24,90 €, ISBN 3-492-04459-X
„Zwischen Welten“ umfasst Kremers Moskauer Studienjahre
bis zum Ende der sowjetischen Karriere. In seiner Offenheit erinnert
es an die frühen Erinnerungen der „Kindheitssplitter“,
jedoch schreibt Kremer hier ungleich dichter. Die künstlerische
Entwicklung des jungen Letten aus baltisch-deutscher Familie trifft
auf den Hintergrund der 60er und zunehmend verkarsteten 70er der
Sowjetunion. Im Privatleben ist, entgegen allen staatlichen Drohgebärden,
kommunistischer Patriotismus längst nicht mehr alltäglich,
die neue Generation von Zweiflern wächst heran. Aber nach wie
vor ist hinterfragen gefährlich und nur im engsten Kreis möglich.
Diese Jahrzehnte legen einen wichtigen Grundstein für den politischen
Umbruch 1989. Kremer entwickelt ein lebendiges und vielschichtiges
Bild des Daseins als „Musicus sowjeticus“.
Aufmerksam beobachtet der Autor die Entwicklung und Reife seiner
künstlerischen Persönlichkeit aus der Retrospektive. Behutsam,
jedoch nicht kritiklos kommt er seinem jungen Ich näher. Gidon
Kremer ist künstlerisch unnachgiebig, risiko- und experimentierfreudig.
Und er hat das Glück, in David Oistrach nicht nur einen Virtuosen
von Weltrang als Mentor gewonnen zu haben, sondern auch einen ermutigenden
Freund von ungewöhnlicher menschlicher Größe.
Der empfindliche junge Wettbewerbssieger mausert sich zu einem
Profi. Die Konzertreisen durch Sibirien und asiatische Märchenstädte
härten nicht nur die Nerven ab. Zunehmend gestaltet der Geiger
seine Programme nach eigener Dramaturgie. Übergeht auch hier
Normen der staatlichen Kulturpolitik, macht Erfahrungen, gewinnt
Einsichten und Feinde. Aber auch Freunde für’s Leben:
als Alfred Schnittke einmal im selben Hotel logiert, macht Kremer
sich ein Geschenk und klopft an Schnittkes Tür. Sofia Gubaidulina,
Gija Kantscheli, Arvo Pärt unter anderem sind bis heute künstlerische
Partner.
Die Arbeitsintensität unter ideologischem Druck ergibt ein
Konglomerat aus Kraft, Verzweiflung und Heiterkeit. Bittere Heiterkeit
oft, weil vieles so lächerlich ist. Dabei sieht der Musiker
die kalte Realität des Systems sehr klar und findet eine zutreffende
Beurteilung: „Kafka und Orwell, die Visionäre aller möglichen
Unmöglichkeiten, sind eigentlich die bedeutendsten Vertreter
des ‚sozialistischen Realismus‘... Hier triste Abgeschiedenheit,
da Galavorstellungen in der Hauptstadt, hier geschätzt, da
angezweifelt: All das gehörte damals zu meinem Lebensalltag.
Ich versuchte, damit fertig zu werden, ohne mir selbst dabei abhanden
zu kommen.“
Konzerte im Wiener Musikverein öffnen die Türen zur
Welt. Herbert von Karajan holt den jungen Geiger nach Berlin. Für
Kremer ist es die Begegnung mit einer Legende, auch wenn sie nicht
ohne Ecken und Kanten verläuft. Der Geiger ist ein ebenso starker
wie schwieriger Partner,
da bleiben gelegentliche Irritationen nicht aus. Gidon Kremer analysiert
wach und zunehmend schonungslos. Den Debüts mit den Wienern
und Berliner Philharmonikern folgen Einladungen zum London Symphony
Orchestra und nach New York: Kremer wird zum Weltbürger. Freunde
nennen ihn heute den „fliegenden Holländer“. Die
Splitter der Kindheit stecken auch dem Mann noch in der Haut. Unvermutet
bringen sie sich schmerzhaft in Erinnerung. Dieser maßlos
vereinnahmende Workaholic ist eine explosive Mischung voller Humor
und Herzenswärme. Es ist naheliegend, dass Ehefrauen und Freundinnen
ebenfalls ungewöhnliche Partnerinnen sind. Der zweijährige
Urlaub des „Musicus sowjeticus“ endet 1980 mit dem Verzicht
auf die sowjetische Staatsangehörigkeit, um einer Ausbürgerung
vorzubeugen. Auch ein Gidon Kremer kann dem System das Recht auf
freien Wohnsitz nicht abtrotzen. Glasnost & Perestroika sind
noch weit. Kremers kritischer Epilog, Reflexion des Geschriebenen
nach noch einmal zehn Jahren, schlägt den Bogen zum Beginn
seines Buches. Inzwischen hat sich ein enormer gesellschaftlicher
Umbruch vollzogen. Der Musiker bringt seine Erfahrungen aus beiden
Welten in einen Fokus. Wittgensteins „Die Grenzen der Sprache
sind die Grenzen des Ichs“, Schlüsselwort im Prolog,
ist allgemein gültig, so wie jede Wegsuche letztlich in persönlicher
Verantwortung liegt.